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Beitrag vom 24.11.2005
Der entseelte Patient. Die moderne Medizin und der Tod
Brigita Bosotin
Dr. Anna Bergmann schildert präzise die Arroganz, mit der die Wissenschaft unter dem Deckmantel der Forschung Schindluder trieb.
Dr. Anna Bergmann beschäftigt sich in ihrem Buch „Der entseelte Patient“ mit der historischen Entwicklung der Experimentalmedizin. Sie beschreibt, wie Minderheiten als Brutstätten von Krankheiten abgestempelt wurden und wie mit ihnen verfahren wurde. Schon vor 500 Jahren wurden bestimmte Volksgruppen von den Machthabern als besonders gefährdet eingestuft. Dem (deutschen) Volk waren jüdische BürgerInnen und Mitglieder des fahrenden Volkes suspekt. Sie gerieten häufig ins Visier und wurden beschuldigt, Krankheiten zu verbreiten. Begründet waren diese Vorurteile nicht, sie resultierten aus rassistischem Gedankengut.
In mehreren Abschnitten geht die Autorin auf die vielschichtigen Abläufe und Entwicklungen bis zur Modernen Medizin ein. Hierbei wird der Leserin bewusst, wie die heutige Gesellschaft von diesen Experimenten und Vorgehensweisen bei Epidemien profitiert. Mitunter stellt sich ein schlechtes Gewissen ein. Die Qualität der Reglements hat sich mit der Zeit mit Präzision und beinahe betont gefühlskalt in eine Richtung entwickelt, die die Ausmerzung von Seuchen und anderen Krankheiten ermöglichte. Durch die Quarantäne wurden zwar Menschen und auch Opfer gefordert, doch nur so konnten Ausbreitung und Erkrankung weiterer Bevölkerungsteile verhindert werden. Zu verurteilen ist im engen Sinne nur die Vorgehensweise, weil sie brutal, gefühllos und diskriminierend war. Ohne jegliches Mitleid wurden die Menschen, die meist aus armen Bevölkerungsschichten stammten oder Angehörige bestimmter Religionen waren, in Lager abgeschoben und dort mehr oder weniger sich selbst überlassen. Die Willkür, die durch die zwangsverpflichteten Unehrlichen erfolgte, kann kaum beschrieben werden.
Die Behandlung der Pestkranken geriet später mehr in den Fokus von Forschern. Sie suchten sich Arme und Sterbenskranke und unterzogen sie medizinischen Experimenten. Die Gesundung der Probanden war sekundär, vielmehr stand das Forschungsinteresse im Vordergrund, Priorität hatte die Isolierung aus der Gesellschaft. Der Patient war dem Gelehrten hilflos ausgeliefert.
Im letzten Abschnitt des Buches beleuchtet die Autorin die Gerichtsmedizin und die damit einhergehende Beziehung zwischen dem Strafvollzug und der Experimentalmedizin. Schon früh wurden auch Strafgefangene als Probanden missbraucht und deren leblose Körper nach der Exekution für die Medizin freigegeben. Häufig hatten Mediziner ein Mitspracherecht bei der Tötungsart der zum Tode Verurteilten. Um die Anatomie des Menschen zu studieren, wurde die Physiologie der Toten untersucht. Diese Art der Wissenschaft fielen nicht nur Verurteilte zum Opfer, sondern auch einfache Menschen, die fürchten mussten, entführt zu werden.
Die Grausamkeit des menschenverachtenden Vorgehens und die Rücksichtslosigkeit waren Merkmal einer Zeit des Forscherdrangs in der Wissenschaft.
Zur Autorin:
Dr. Anna Bergmann, Jahrgang 1953, hat schon früh begonnen, sich mit kulturwissenschaftlichen Themen zu beschäftigen. Einer ihrer Schwerpunkte liegt auf der Seuchen- und Quarantänepolitik in Europa. Promoviert hat sie an der Freien Universität Berlin am Fachbereich für politische Wissenschaft. Mittlerweile ist sie Privatdozentin an der Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Europa-Universität Frankfurt (Oder). Mehr zu Dr. Anna Bergmann finden Sie auf den Seiten der Europa-Universität Frankfurt (Oder).
AVIVA-Tipp: Dieses Buch vermittelt Basiswissen in Medizingeschichte. Es gibt Aufschlüsse und ermöglicht, ein grundlegendes Verständnis für die Historie aufzubauen, die sich hinter der modernen Seuchen- und Quarantänemedizin verbirgt. Prädikat: lesenswert.
Anna Bergmann
Der entseelte Patient – Die moderne Medizin und der Tod
Aufbau Verlag, erschienen Oktober 2004
ISBN: 3351025874
455 Seiten, gebunden
24,90 Euro