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Beitrag vom 10.08.2005
Ihr wißt wohl, wen ich meine
Karin Effing
Katharina Thalbach liest die Texte Friederike Kempners, die lange als das "Genie der unfreiwilligen Komik" galt. Kongenial macht sie das. Unterstützt von zeitbloms Sound. Einmalig kurios.
Das Tier
Hat Er es nicht gleich uns erschaffen?
Mit gleichen Sinnen auch versehen?
Es liebt, und hasst, fühlt Weh und Freude:
Das müsst ihr ja doch zugestehen,
Daß es nicht auch französisch spricht,
Das ändert doch die Sache nicht!
Friederike Kempner, 1828 geboren, wuchs mit ihren vier Geschwistern auf einem Rittergut in Schlesien auf. Ihre Eltern, jüdischen Glaubens, gehörten der aufgeklärten Elite Preußens an. Sie begleitete schon früh ihre Mutter, die sich um die Kranken und Hilfsbedürftigen der umliegenden Dörfer kümmerte, und stand ihr tatkräftig zur Seite. Auf diese Weise entwickelte sie ein tiefes soziales Bewusstsein. Die Konfrontation mit dem Tod ließ sie nicht mehr los. So beschäftigte sie die Frage des genauen Zeitpunktes des Todeseintrittes und die Angst vor dem Lebendigbegrabenwerden zeitlebens.
Mit ihren engagierten Schriften übte sie Einfluss auf politische Entscheidungen ihrer Zeit aus. Als Kaiser Wilhelm I. 1871 für alle Gemeinden in Deutschland eine gesetzliche Wartefrist zwischen Tod und Beisetzung anordnete, berief er sich ausdrücklich ihre "Denkschrift über die Nothwendigkeit einer gesetzlichen Einführung von Leichenhäusern." (1850). Nach ihrer Veröffentlichung "Gegen Einzelhaft oder Das Zellengefängnis" (1869) begann eine landesweite Kampagne, die zur stufenweisen Abschaffung der Einzelhaft führte.
Sie schrieb jedoch auch Gedichte und Theaterstücke. Der literarischen Erstveröffentlichung "Berenice", einer Tragödie, folgte das Drama "Rudolf II." , das mit großem Erfolg in Berlin aufgeführt wurde.
Es folgte 1973 der erste Gedichtband.
Durch Paul Lindaus Rezension ihrer Gedichte1880 in seiner Berliner Literaturzeitschrift "Die Gegenwart" wurde Friederike Kempner schnell über die Grenzen ihrer schlesischen Heimat als Dichterin hinaus bekannt. Seine ironische und überhebliche Kritik prägte die nachfolgende Rezeption und sie avancierte zum "Genie der unfreiwilligen Komik". Die Lächerlichgemachte litt unter diesem Stigma. Und der Familie waren ihre dichterischen Ambitionen ein Dorn im Auge. Schlimm genug, dass sie ihr Leben lang ledig blieb, wurde sie nun zum Objekt von Belustigung und Schadenfreude. Ihr Bruder kaufte ihre Bücher restlos auf und verhalf ihr somit zu einer hohen Auflagenzahl.
In ihren Gedichten, die unter dem Einfluss der Romantik stehen, nimmt sie Stellung zu aktuellen Themen und Ereignissen. Sie verfasste Balladen, kurze Sinnsprüche und Epigramme, Sonette und verwendete vor allem volksliedhafte Formen. Sentimental, patriotisch und sozialkritisch widmen sich die Texte ungewöhnlichen Themen auf manchmal bizarre Weise. Dabei kippen die Texte ansprechenden Inhaltes unerwartet ins Lächerliche. Oder die Autorin zerstört ein passendes Bild in den letzten Zügen.
Während des Nationalsozialismus wurden ihre Werke aufgrund der antisemitischen Kulturpolitik aus den Bibliotheken entfernt. Gerhart Herrmann Mostar entdeckte sie 1952 wieder. Ausführlich auf ihre Biographie eingehend, analysierte er die komische Wirkung ihrer Gedichte: "Dies haarscharfe Danebenhauen, dies Beinahe-richtig-Liegen, dies Beinahe-gut-Sein, dies Zerschmettern aber dann der eigenen Wirkung im aller-allerletzten Augenblick, in der aller-allerunerwartesten Weise - das ist es, das ist sie, Friederike."
Es entstanden unzählige Parodien auf Friederike Kempners Gedichte, die neben den Originalen abgedruckt wurden. Oft zielte dabei der Spott auf die jüdische Herkunft der Dichterin ab.
In letzter Zeit widmete sich die Literaturkritik dem Werk der sozial engagierten Frau auf seriösere Weise. So ist der Kritiker Peter Hacks der Meinung, sie habe die Komik bewusst eingesetzt, um die Öffentlichkeit auf ihre Überzeugungen aufmerksam zu machen.
Nachdem die Neuauflage der Gedichte Friederike Kempners zum 100. Todestag der Dichterin am 23. Februar 2004 bei Matthes & Seitz erschien, würdigt der Verlag sie nun mit dem Hörbuch "Ihr wisst wohl, wen ich meine". 49 ausgewählte Gedichte werden darauf von Katharina Thalbach respektvoll und eindrücklich gelesen.
Ohne sie zu parodieren oder sich ironisch über sie zu erheben, wie es nur allzu oft in der Vergangenheit geschah, leistet die Schauspielerin eine angemessene und überzeugende Interpretation der originellen Texte. Sie arbeitet mit der Komik der Texte, ohne die Dichterin jedoch bloß zu stellen.
Unterstützt durch die Musik zeitbloms gewinnt Kempners Werk eine liebenswerte Skurrilität. Dabei bleibt die Ernsthaftigkeit des Engagements und die Qualität der einzelnen Werke erhalten.
AVIVA-Tipp: Katharina Thalbach leiht den zuweilen bizarren Gedichten ihre wunderbare Stimme. Zeitbloms Klänge gehen mit den Texten einen bereichernden Dialog ein. Zusammen mit der ansprechenden Gestaltung des Hörbuches ist ein ganz besonderes Werk entstanden, das unterhaltsam ist, aber auch nachdenklich macht.
Katharina Thalbach wurde am 19. Januar 1954 in Ost-Berlin als Tochter der Schauspielerin und berühmten Brecht-Darstellerin Sabine Thalbach und des Regisseurs Benno Besson geboren. Nach dem Tod der Mutter wurde sie in Untermiete bei einer Pflegefamilie groß und erzog sich selbst, wie sie in einem -Interview mit der "Welt" sagte.
Von Helene Weigel wurde sie noch während der Schulzeit für die Bühne entdeckt. Sie debütierte als 15-jährige am Berliner Ensemble als Hure Betty in Brecht/Weills "Die Dreigroschenoper".
Es folgten große Erfolge, besonders am Berliner Ensemble und in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz. 1973 wurde ihre Tochter Anna geboren, die heute ebenfalls eine bekannte Schauspielerin ist.
Im Dezember 1976 siedelte Katharina Thalbach zusammen mit ihrem Partner, dem Schriftsteller Thomas Brasch (geboren 1945, gestorben 2001), in der Folge ihres Protests gegen die Biermann-Ausbürgerung von Ost- nach Westberlin über.
Zeitblom lebt in Berlin. Elektronik-Musiker, Elektroakustischer Komponist, Produzent, Bassist, Sounddesigner, realisiert mediale Installationen, Hörspiel- und Theatermusiken. Tritt in unterschiedlichen Konstellationen als Live-Musiker auf.
Der studierte E-Bassist sucht explizit die Auseinandersetzung mit anderen MusikerInnen. Mit seiner Avant Rock Band "Sovetskoe Foto" spielte er von 1984-1993, es folgten zahlreiche kürzere musikalische Begegnungen mit bekannten Persönlichkeiten der New Yorker Szene wie John Zorn und Arto Lindsay. Gründung der experimentellen Rockband "the no ensemble" mit den Musikern der "Einstürzenden Neubauten" Alexander Hacke und Rudi Moser.
Deutscher Hörspielpreis 2001 für Metropolis von Lang/Harbou und Silver Medal bei den New York Festvals 2001.
Friederike Kempner
Ihr wisst wohl, wen ich meine. Gedichte
Gelesen von Katharina Thalbach
Musik von zeitblom
Matthes & Seitz Berlin, erschienen Dezember 2004
Audio CD, ca. 70 min.
19,80 Euro
ISBN 3-88221-900-9200821185088"
Friederike Kempner
Gedichte
Mit einem Vorwort von Hartmut von Lange
Matthes & Seitz Berlin, März 1995
19,80 Euro
ISBN 3-88221-802-9
Gebunden mit Schutzumschlag, 319 Seiten200889587275"