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Beitrag vom 13.12.2005
Im Schatten der Schlange
Sarah Ross
Zsuzsa Rakovsky beschreibt in ihrem historischen Roman ein Frauenleben im 17. Jahrhundert. Eine junge Frau befreit sich von Aberglauben und archaischen Bräuchen und erzwingt sich ein freies Leben.
Die Autorin Zsuzsa Rakovsky ist in ihrer Heimat Ungarn ein Star. Ihre Werke wurden bereits mehrfach ausgezeichnet und sie zählt zu den bedeutendsten Lyrikerinnen des Landes. In ihrem neuen Roman "Im Schatten der Schlange" – eine farbenprächtige und zugleich vielstimmige Geschichte – begibt sich die Autorin auf eine Reise zurück ins 17. Jahrhundert. Im Mittelpunkt der Handlung steht die Erzählerin und Heldin Ursula Binder, geborene Lehmann. Sie ist verwitwet und ungarische Bürgerin deutscher Herkunft, die schon früh schlimmes Leid erfahren hat und ihr Leben lang mit ihrem Schicksal haderte. Als alte Frau blickt sie schließlich im Jahr 1666 auf ihre Kindheit und ihre Jugend in einem ungarischen Dorf zurück und schreibt ihre Autobiographie. Getragen wird die Geschichte von einem dunklen und verstörenden Grundton, der die existentielle Gefährdung und Ohnmacht der Protagonistin hervorhebt.
Ursula Lehman wurde mitten in eine grausame Welt hineingeboren, die von Aberglauben, Glaubenskriegen, Gewalt und der Pest geprägt war. In den Wirren jener Zeit versucht das junge und leidenschaftliche Mädchen, das zudem in einem lieblosen Elterhaus aufwuchs und dessen Mutter schon früh an der Pest stirbt, ihr Glück zu finden. Ihre Erinnerungen, die sie nun als alte Frau zu Papier bringt, offenbaren ein lange gehütetes Geheimnis und eine große Sünde, die sie ihr Leben lang verheimlichen musste.
Sie lebte über siebzehn Jahre lang alleine mit ihrem Vater und galt vor der Welt als seine hilfsbereite und treue Stütze. Er ist Apotheker und lehrt sie alles über Kräuter und Medikamente, damit auch sie bald die Menschen heilen kann. Doch hinter den Türen wurden mal stumme und mal stürmische Schlachten ausgetragen. Als Ursula eines Tages ungewollt schwanger wird, hilft der Vater, diesen Fehltritt zu vertuschen. Denn die strengen moralischen Ansichten jener Zeit und die strikte Durchsetzung von Zucht und Ordnung sahen für Frauen, die ein uneheliches Kind erwarteten, den Tod vor. Sie zieht aus ihrer Heimatstadt nach Sopron und zum "Dank" für diese Tat konnte sich Ursulas Vater ungestraft an ihr vergehen. Die unglückliche Heldin des Romans gerät in eine fatale Abhängigkeit zu ihrem Vater und lebt mit ihm jahrelang in einem eheähnlichen Verhältnis.
Das Leben von Ursula Lehman entwickelt sich fortan zu einem Albtraum. Der Vater tötet ihren einzigen Freier, um zu vertuschen, dass er mit seiner Tochter in Inzucht lebt, und sie hilft ihm, die Leiche zu verscharren. Als eines Tages ein junger Arzt auf der Durchreise in Sopron ist, gewinnt sie ihn für sich und flieht kurzerhand mit ihm. Doch zu dem Zeitpunkt ist Ursula bereits von ihrem Vater schwanger. Schließlich schlägt die Ironie des Schicksals auch auf ihre alten Tage noch zu, wo sie beinahe der Hexerei angeklagt wurde, weil sie im Wald Kräuter sammelt. Ursula Lehmann schildert, wie sie sich ihr ganzes Leben lang für eine Person ausgeben musste, die sich nicht war, um dem Henkersbeil zu entkommen. Und tagein tagaus fürchtete sie, dass die Wahrheiten, die niemand erfahren durfte, ans Tageslicht geraten könnten. Vor dem historischen Hintergrund Ungarns im 17. Jahrhundert, zur Zeit der osmanischen Besetzung und des Religionskrieges zwischen Katholiken und Protestanten, schickt die Autorin ihre Protagonistin in einer fiktiven Autobiographie auf eine aufregende Reise zu sich selbst. Dabei durchzieht das zentrale Motiv der Schlange den gesamten Roman: und zwar in Zusammenhang mit der Zunft der Apotheker, als auch als Sinnbild für die Verführung und Intrige. Zudem erinnert auch das sich wandelnde Leben von Ursula Lehmann, vom Mädchen zur Frau, an eine sich häutende Schlange.
AVIVA-Tipp: Zsuzsa Rakovszkys Roman ist eine fiktive Autobiographie, die vom blinden Schicksal, der unterdrückten Leidenschaft und dem Leid einer jungen Frau im 17. Jahrhundert berichtet. Aus dem Blickwinkel einer weiblichen Romanfigur werden die historischen Ereignisse im Ungarn jener Zeit mit dem Gefühl verwoben, des eigenen Lebens, Wollens und Fühlens beraubt worden zu sein. Dabei greifen in der Geschichte Liebe und Hass, sowie der leidenschaftliche Kampf von Eifersucht und gegenseitiger Abhängigkeit tief ineinander. Zsuzsa Rakovszkys Roman ist ein fesselndes und verblüffendes Werk – dicht, kraftvoll und leidenschaftlich.
Zur Autorin: Zsuzsa Rakovszky wurde 1950 in Sopron geboren. In Budapest studierte sie englische und ungarische Literatur, arbeitete als Bibliothekarin und später als Redakteurin bei einem Verlag. Zwischen 1981 und 1998 erschienen fünf Gedichtbände. Mit ihrem Gedichtband "Stimmen" avancierte sie 1991 zu einer der bedeutendsten ungarischen Lyrikerinnen. Weiterhin übersetzt sie englische und amerikanische Lyrik, Romane und Essays. Der Roman "Im Schatten der Schlange" ist das erste Prosawerk der Autorin und in Ungarn die literarische Sensation des Jahres. Für dieses Werk erhielt sie 2003 den Ungarischen Literaturpreis.
Zsuzsa Rakovszky
Im Schatten der Schlange
Originaltitel: A Kigyo Arnyeka
Aus dem Ungarischen von Ernö Zeltner
btb, Dezember 2005
ISBN-10: 3-442-73196-8
ISBN-13: 978-3-442-73196-1
576 Seiten, Taschenbuch
12,00 Euro90008115&artiId=3555927&nav=5081"