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Beitrag vom 07.10.2005
Leon de Winter. Place de la Bastille
Almut Münch
Paul ist fernsehsüchtig und tief traurig. Seine Familie starb in Auschwitz. Nimmt er zumindest an. Bis er in Paris auf seinen Doppelgänger trifft. Ist das Philip, sein tot geglaubter Zwilling?
"Supertex" war sein erster grosser Erfolg, "Place de la Bastille" einer seiner ersten Romane: Der grosse niederländische Autor Leon de Winter, 2002 mit dem WELT-Literaturpreis ausgezeichnet, schlägt in seinem ältesten und gleichzeitig jüngsten Werk leise Töne an. "Place de la Bastille" erschien unter demselben Titel bereits 1981 in den Niederlanden. Nun liegt das Buch endlich auch in deutscher Übersetzung vor.
Was wäre wenn...
Wenn Marie Antoinette nicht so lange getrödelt hätte, hätten die Pferde rechtzeitig gewechselt werden können. Wenn die Flucht des französischen Königspaares also gelungen wäre, wenn Ludwig XVI. nach Versailles zurückgekehrt wäre, wäre Napoleon nicht Kaiser geworden und Waterloo ein unbekannter Ort.
Niemand weiß das besser als Paul de Witt, der sich mit einer solchen Sturköpfigkeit in die abendländische Geschichte verbissen hat, dass sein ganzes Leben durcheinander gerät. Oder war dieses Leben bereits so chaotisch, dass es eigentlich umgekehrt war? Dass Paul sich in die Geschichte flüchtete, um sich selbst vergessen zu können?
Paul hat keine Ahnung. Nur eines weiß er:
Sein Beruf als Geschichtslehrer füllt ihn nicht aus. Er will mehr. Nämlich dahinterblicken. Die Weltgeschichte entlarven. Als das, was sie in seinen Augen ist: Eine Verkettung von Unvorhergesehenem, reines, pures Chaos. Das, was seine Schüler als Tatsachen lernen, ist für Paul nichts anderes als der verzweifelte Versuch, das Hier und Jetzt aus der Vergangenheit zu erklären.
Deshalb unternimmt er das Naheliegende: Paul schreibt die Geschichte um. Gibt ihr eine sinnvolle Richtung. Macht sie erträglich: Die spektakulär gescheiterte Flucht des franzüsischen Königspaares gelingt in seiner wissenschaftlichen Studie "Place de la Bastille" (die eigentlich immer mehr zum Roman wird). Und in seinen Träumen lächeln Pauls Eltern, faltig, freundlich und sehr lebendig. Obwohl sie 1944 in Auschwitz ermordet wurden. Im Alter von 23 und 29 Jahren.
Pauls unerträgliche Sehnsucht nach dem Leben
Sie lächeln, und Paul weint. Sieht nächtelang fern. Kapselt sich immer stärker von seiner eigenen kleinen Familie ab. Und sucht nach dem großen Glück. Oder zumindest nach Ersatz für all das, was für andere selbstverständlich ist, das er jedoch nie hatte: Eltern, Geschwister, Religion. Seine Geliebte Pauline sagt es ihm geradeheraus: "Du sehnst dich nach einer Vergangenheit, die nie Vergangenheit werden konnte."
Als Paul die Urlaubsfotos abholt, um sich zurück in die Pariser Tage mit Pauline träumen zu können, scheint die Vergangenheit aber plötzlich ganz real zu werden: Auf der Place de la Bastille, direkt hinter Pauline, lächelt ihm sein Alter Ego entgegen. Und als Paul die Bildausschnitte vergrößert, erkennt er seinen Zwillingsbruder Philip. Von dem er seit gut 14 Jahren nicht mehr weiß, als dass es ihn gibt. Aber dieses ungewisse Wissen alleine genügt, um Paul aus seiner Starre zu lösen und sein Leben endlich in die Hand zu nehmen.
AVIVA-Tipp: Leon de Winters wunderbar klar und schnörkellos erzählter kleiner Roman ist sein vielleicht stärkster Text. Gerade weil er über die menschliche Schwäche schreibt. Und das mit einem derart schonungslosen, wachen Blick, dass man den Atem anhält. Weil doch jede von uns gut versteckte Seiten hat, die sie lieber überblättert.
Leon de Winter
Place de la Bastille
Diogenes Verlag
Aus dem Niederländischen von Hanni Ehlers
Originaltitel: Place de la Bastille
Leinen, 158 S.
ISBN 3-257-06496-9
17.90 Euro
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