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Beitrag vom 21.08.2005
Sylke Tempel - Globalisierung, was ist das
Tatjana Zilg
Was verbirgt sich eigentlich hinter dem häufig gebrauchten Begriff? Das Sachbuch bietet einen verständlichen, gut lesbaren Überblick zu Pro und Contra und liefert Infos zum historischen Hintergrund
Das Live Aid-Konzert aus Übertragungsorten in aller Welt gegen den Hunger in Afrika, spektakuläre ATTAC-Aktionen in den Medien, die Gefährdung des eigenen Arbeitsplatzes durch Unternehmensverlagerung in das lohngünstige Ausland, Kauf von Produkten aus Ländern am anderen Ende der Welt, Umweltkatastrophen im Urlaubsland: Globalisierung ist ein Gesprächsthema, das Zündstoff für jede Diskussion sein kann. Manche halten sie für extrem schädlich, andere für unumgehbar für den Fortschritt und Wohlstand jedes einzelnen Landes.
Um zu verstehen, warum die Gegenwart geprägt ist von Einflüssen, die teils kaum mehr lokalisierbar sind und zunehmend auch als bedrohlich wahrgenommen werden, ist ein Rückblick in die Geschichte sinnvoll.
"Globalisierung mag der ’am meisten missbrauchte Begriff des 21. Jahrhunderts’ sein, wie das britische Magazin ’The Economist’ feststellte. Sie ist jedoch zweifellos ein Leitmotiv, das sich mit positiven und negativen Konsequenzen mindestens durch die letzten 500 Jahre unserer Geschichte zieht."
Die Eroberungslust, Kolonialisierung und der Missionsdrang ließen die Menschen seit dem Mittelalter in größerem Umfang die Welt entdecken. Die Berichte der Abenteurer führten zu den ersten Auswanderungswellen auf der Suche nach einem besseres Leben. Im Vordergrund der Schiffsreisen stand der Handel mit exotischen Produkten wie Seide, Gewürze, Tee, aber auch die Gier nach wertvollen Rohstoffen wie Gold. Aber die Auseinandersetzung mit der Vielfalt der Welt bewirkte auch den Beginn der Geschichte der modernen Wissenschaft und eine weitaus kritischere Begegnung mit den eigenen Herrschaftsstrukturen. Die Autorin verankert in diese Phase den Vorteil von Europa, sich durch eine weitgreifende Forschung einen immensen Wissensvorsprung erarbeitet zu haben. Durch die industrielle Revolution bekam es langfristig eine wirtschaftliche Vormachtstellung innerhalb der fünf Kontinente.
Sylke Tempel nimmt in ihrem Buch insgesamt eine positive Einstellung gegenüber der Globalisierung ein. Ein weltweites Handelsnetz und weitgehend offene Grenzen könnten dazuführen, dass ärmere Länder, trotz der Gefahr der Ausbeutung, eine Möglichkeit der Teilhabe am Wirtschaftswachstum und dem Austausch von Technologie und Know-How bekämen. Ein Kernpunkt der Pro-Argumentation der Autorin ist das 1776 veröffentlichte Werk von Adam Smith. Er brach mit den überlieferten Konventionen des Merkantilismus, der besagte, dass Geld in Form "wertvoller Metalle" die wesentliche Grundlage der wirtschaftlichen Macht eines Staates sei. Importe würden dem Land Geldwerte entziehen, wodurch die heimische Industrie geschwächt würde. Damit erhöhe sich die Abhängigkeit von "fremden Ressourcen". Die Folge waren Schutzzölle gegen die ausländische Konkurrenz. Adam Smith setzte dem die These entgegen, das wichtigste Element für den Wohlstand eines Staates seien seine "produktiven Ressourcen" wie Land, Arbeitskräfte, Kapital und deren effiziente Nutzung. Zölle seien eine Gefährdung des Wettbewerbes und würden zu höheren Preisen führen. Smith propagierte den freien Handel: Jedes Land solle seinen "komparativen Vorteil" nutzen, indem es sich auf die Produkte konzentriere, die es besser und effektiver als andere herstellen könne. Wenn jede/r Produzent/in, Handwerker/in und Verkäufer/in zur Unterwerfung unter das Preis-Leistungs-Verhältnis gezwungen werde, trage dies zur Dynamisierung des Marktes bei. Smith glaubte, dass der Druck durch die Konkurrenz zu höherer Qualität und niedrigerem Preis führe. Der allgemeine Wohlstand werde demzufolge erhöht, wobei er zusätzlich auf eine breit angelegte Volksbildung setzte. In der Realität ist diese Epoche jedoch durch die Proletarisierung der unteren Bevölkerungsschichten, der schlechten Wohnsituation in den Städten und den daraus entstandenen Krankheitsepidemien gekennzeichnet. Die industrielle Produktion von Stahl und Eisen führte zu massenvernichtenden Kriegswaffen wie Kanonen und Maschinengewehren.
Nachdem im Ersten und Zweiten Weltkrieg die Staatsgrenzen und die wirtschaftlichen Strukturen starken Veränderungen ausgesetzt waren, wurden 1944 in New Hampshire/USA bei einer Fachkonferenz unter der Führung von dem Ökonom John Maynard Keynes und dem Staatsekretär des Finanzministeriums Harry Dexter White die Grundlagen für den Wiederaufbau entworfen. Um Inflation und Wirtschaftskrisen zukünftig zu vermeiden, sollte der freie Handel begünstigt werden, indem die Handelsbarrieren bei gleichzeitiger Kontrolle der Kapitalflüsse abgebaut werden. Dies war die Geburtsstunde der Internationalen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (Weltbank), welche mit Anleihen und Strukturanpassungsprogrammen den Wiederaufbau des vom Krieg verwüsteten Europas finanzieren sollte.
Die Autorin versucht nun die Argumente von den GlobalisierungsgegnerInnen zu widerlegen. Deren Kernthese ist, dass die Gesetze des freien Marktes die Schwellen- und Entwicklungsländer stark benachteiligen. Am Beispiel der "Sweat Shops"(Fabrikationsstätten großer Markenunternehmen in Entwicklungsländern), möchte Sylke Tempel zeigen, dass diese Befürchtungen nicht haltbar sind. Sie schildert, dass die Arbeitskonditionen in den von den Unternehmen direkt geführten Fabriken besser sind als in Betrieben, die im lokalen Besitz sind. Dass diese in Abhängigkeit zu den ausländischen AuftraggeberInnen stehen, sieht sie nicht als Kausalität des internationalen Wettbewerbes, der den Besitzern der Produktionsstätten ermöglicht, mit wenig Aufwand hohen Gewinn auf Kosten der ArbeiterInnen zu machen, sondern als Gegebenheit, die durch den unterentwickelten Status des Landes forciert wird. Durch die Abwanderung der Billigproduktionsstätten nach der Stabilisierung der Innenwirtschaft des Landes in ein anderes Entwicklungsland, sieht sie bewiesen, dass die Westfirmen zwangsläufig bessere Lebensbedingungen initiieren. Dabei lässt sie außer Acht, dass genau dies die lokalen Betriebe zwingen kann, die Produktionskosten niedrig zu halten (und somit die Arbeitsbedingungen nicht verbessert werden können), da sie sonst die Abwanderung der ausländischen Aufträge befürchten müssen. Stattdessen betont die Autorin den positiven Effekt der Globalisierung insofern, als dass nun eine weltweite Öffentlichkeit auf derartige Problematiken aufmerksam werden kann. Der so entstehende Druck zwingt die Entwicklungs- und Schwellenländer dazu, die Bedingungen für die Bevölkerung zu verbessern, da sonst Handelsboykotte drohen.
"Globalisierung, so die Annahme, mache die Armen ärmer und die Reichen reicher. ’Lokalisierung statt Globalisierung’ lautet neuerdings die Devise. Doch hier irren die Kritiker nicht nur. Es wäre verheerend, wenn sie sich mit ihren Forderungen durchsetzen würden. ... Wie aber wurde Armut reduziert? Die Formel lautet simpel: Handel fördert Wachstum, und Wachstum reduziert Armut."
Ihre Thesen belegt sie mit dem Wandel im ehemals wirtschaftlich isolierten China, der raschen Entwicklung in Indien und Taiwan und dem Vergleich von Südkorea mit seinem Nachbar Nordkorea. Der Befürchtung, dass nur eine Minderheit von dem Wachstum profitiere, stellt sie den "Trickle-down-Effekt" entgegen, der belege, dass sich in Ländern mit größerem Wirtschaftswachstum die Situation aller Bevölkerungsschichten verbessere. In Ländern, die von starken Hungerkrisen und Elendsvierteln geprägt sind, sieht sie die Verursachung in der internen politischen Situation wie Bürgerkriege, Machtkämpfe und Korruption. Die Gegenargumente, dass die Strukturanpassungsprogrammen der Weltbank auch zu diesen Problemen beigetragen haben, indem sie zu einseitig Industriezweige gefördert haben und durch die hohe Verschuldung einen eigenständigen Entwicklungsprozess verhindern, werden hierbei nur kurz abgehandelt.
Zur Autorin:
Die promovierte Historikerin Sylke Tempel, geboren 1963, lebt als freie Journalistin in Berlin und Jerusalem. Seit 1994 berichtet sie für "Die Woche" aus Israel.
AVIVA-Tipp: Leider ist das insgesamt sehr informative Buch etwas einseitig, da die Autorin stark Position für die Globalisierung bezieht, anstatt das Pro und Kontra neutral darzustellen. Sie hält konsequent an der These fest, dass die Vorteile überwiegen: Durch weltweite Vernetzung und freien Handel könnten immer mehr Menschen unabhängig von ihrer Herkunft und Lebensort an Wohlstand, Wissen und Innovation teilhaben. Wer mit offenen Augen bereits durch Dritte-Welt-Länder gereist ist, wird hieran sicherlich seine/ihre Zweifel haben.
Sylke Tempel
Globalisierung, was ist das?
158 Seiten, gebunden
Rowohlt Verlag Berlin, erschienen August 2005
ISBN/EAN: 3-87134-504-0
16,90 Euro200784057875"