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AVIVA-BERLIN.de im Dezember 2024 - Beitrag vom 15.07.2005


Orte erinnern - Spuren des NS-Terrors in Berlin - Ein Wegweiser
Karin Effing

Das Buch ist ein unerlässlicher Begleiter, um den Denkmalen in der Stadt auf die Spur zu kommen und mehr über die NS-Zeit und seine sinnlose Zerstörungswut zu erfahren.




"Als Reichshauptstadt war Berlin im "Dritten Reich" nicht nur Sitz der Reichsregierung und nahezu aller Spitzen des Staates, der Verwaltung, der Justiz und der Wehrmacht, sondern auch der Führung von Partei, SS, SD und Gestapo und damit aller Stellen, welche die Verbrechen des Nationalsozialismus geplant, organisiert und schließlich durchgeführt haben. Berlin war aber auch eines der großen Zentren des Widerstandes. Es gibt viele bewegende Beispiele der Auflehnung gegen Willkür und Terror unter Einsatz des eigenen Lebens.!"
(Aus dem Vorwort von Günter Braun)

Das Taschenbuch "Orte erinnern" aus dem Nicolai-Verlag bringt einem einige dieser Orte näher und enthält interessante Hintergrundinformationen. Sowohl die großen und bekannteren Plätze und Mahnmale sind darin enthalten, als auch kleinere Denkmäler und Kunstwerke, die man bis jetzt vielleicht übersehen hat. Mit dem Buch als Unterstützung kann man sie nun entdecken. Und nicht nur die Orte des NS-Terrors, eine ganze Zeit wird erfahrbar. Schön ist auch, dass sowohl die Orte des Widerstands als auch der Verfolgung enthalten sind. So ist die Begegnung mit den verschiedenen Aspekten der NS-Zeit möglich. Menschen mit verschiedenen Lebensumständen und verschiedenen Charakteren entstehen so vor dem inneren Auge und lassen diese Zeit real werden.

Neben Informationen zur Ausstellung Topographie des Terrors, dem Bahnhof Grunewald, Gleis 17, der Neuen Synagoge sowie den anderen bekannteren Mahnmalen, sind auch solche enthalten, die man noch ausfindig machen kann, wie z.B. das Denkzeichen Modezentrum Hausvogteiplatz östlich des Gendarmenmarktes, oder auch das Denkmal für die Widerstandsgruppe um Herbert Baum.

Das Denkzeichen Modezentrum Hausvogteiplatz erinnert daran, dass am Haustvogteiplatz einst der Mittelpunkt der Berliner Mode- und Bekleidungsbranche war. Viele jüdische TextilfabrikantInnen hatten sich hier und in den umliegenden Straßen niedergelassen. Firmen wie Gerson, Hertzog, Levin und Mannheimer begründeten das weltweite Ansehen der Berliner Mode. Der jüdische Anteil unter den in der Welt der Mode Beschäftigten war mit 50 Prozent vergleichsweise hoch, so dass sie von Anfang an ein Dorn im Auge der NationalsozialistInnen waren und in besonderem der antisemitischen Propaganda ausgesetzt waren. Diskriminierenden Verordnungen und Gesetzen sollten sie in die Enge treiben.
Nach dem Aufruf zum öffentlichen Boykott am 1. April 1933 kam es zu tätlichen Übergriffen und Verwüstungen, vor allem die großen Warenhäuser erlitten große Schäden. Viele der JüdInnen, darunter auch der Begründer des Warenhauses Wertheim in Berlin, Georg Wertheim, entschieden sich in dieser ausweglosen Situation für eine sogenannte "freiwillige Arisierung", sie verkauften ihre Betriebe weit unter Wert und flohen ins Ausland. An Wertheim, das sich in der Leipziger Straße befand, erinnert außerdem weder eine Gedenktafel noch ein Mahnmal.
Die NationalsozialistInnen wünschten eine Mode der "arischen Wesensart". So schränkten sie die Wettbewerbsfähigkeit der JüdInnen ein, indem es ihnen verboten wurde, Werbebriefe und Postwurfsendungen zu verteilen. ZulieferInnen wurden isoliert und das Reichspostministerium schuf die Möglichkeit, Postwurfsendungen mit dem Zusatz "Nicht an Juden" zu versenden.
Rund 4.000 Juden und Jüdinnen dieser vitalen Modewelt am Hausvogteiplatz wurden in Vernichtungslager deportiert und ermordet.
Drei Häuser des im Krieg stark zerstörten Platzes erinnern heute noch an das Mode- und Textilzentrum, darunter das Gebäude Am Hausvogteiplatz 1, hier betrieben die Gebrüder Berglas ihr Geschäft für Damenmäntel, Stoffe und Zubehör.

Im Lustgarten steht der eher unansehnliche Betonklotz, der an die Widerstandsgruppe um den dreißigjährigen Herbert Baum gemahnt. Der Elektriker jüdischer Herkunft und seine Frau Marianne versammelten um sich rund 100 junge KommunistInnen. Die Gruppe, der viele Frauen und Mädchen angehörten, produzierte und verteilte Flugblätter und verübte einen Brandanschlag. Im Jahr 2000 veranlasste das Bezirksamt eine Erweiterung um zwei beschriftete Plexiglasscheiben und griff damit eine Idee von Gerhard Zadek auf, der der Widerstandsgruppe selbst angehört hatte.
Auch Denkmale sind also lebendig und haben eine Geschichte.
Ohne das Buch käme man den Hintergründen, Veränderungen und Feinheiten nicht so einfach auf die Schliche.

In den Klappeninnenseiten ist jeweils eine Karte Berlins und seiner Umgebung enthalten, auf denen die verschiedenen Orte verzeichnet sind. Die einzelnen Kapitel enthalten alle praktischen Informationen für die BesucherInnen wie: Anschriften, Öffnungszeiten und Verkehrsverbindungen.
Das bereits 2003 erschienene Buch enthält auch Informationen über das damals noch im Bau befindliche "Denkmal der ermordeten Juden Europas". Aktuelle Informationen über das 2005 eröffnete Mahnmal können im Internet auf der informativen Seite nachgelesen werden.

AVIVA-Tipp:
"Orte erinnern", erschienen im Nicolai-Verlag, macht diese finstere Zeit mit ihren Menschen und ihren tragischen Lebensumständen lebendig. Wünschenswert wäre ein Register, das den Zugang über konkrete Personen und Örtlichkeiten erlaubt.

Die 35 Kapitel können dabei natürlich nicht alle Orte erfassen. Und man sollte das Buch als das nehmen, als das es konzipiert wurde: als Wegweiser durch die düstere Geschichte der Stadt Berlin. Und dafür ist es wärmstens zu empfehlen.

Die AutorInnen:
Johannes Heesch
, Jahrgang 1966, studierte Politische Wissenschaften in Berlin. Er ist Mitarbeiter in einem Forschungsprojekt der Freien Universität Berlin zur Rezeption des Nationalsozialismus nach 1945, Lehrbeauftragter der Technischen Universität Berlin und Bildungsreferent bei der Friedrich-Ebert-Stiftung. Er publiziert zu zeithistorischen Themen.
Ulrike Braun, Jahrgang 1965, studierte Literaturwissenschaft und Slawistik in Berlin, Hamburg und St. Petersburg. Sie lebt als Lektorin und Sachbuchautorin in Berlin.

Weiterführende Links zum Thema:
www.holocaust-mahnmal.de
Seite der "Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas", mit Informationen. Hier auch eine weiterführende Linkliste

www.topographie.de
Informationen zu Nationalsozialismus und seinen Verbrechen, Internetausstellung

www.ns-gedenkstaetten.de/portal/index.php
ausführliche Linkliste der Gedenkstätten in Deutschland sortiert nach Bundesländern

www.gedenkstaette-ploetzensee.de ausführliche Informationen

www.gleis-17.de/index.htm
Seite des Fotografen Thomas Eilenberg mit kurzer deutscher, englischer und hebräischer Einleitung. Fotos des Denkmals. Schön gestaltete Seite. Erwähnenswert auch die Seite www.haberlandstrasse.de des Fotografen zum gleichnamigen Denkmal.

www.berlin-reise-dienst.de/Gedenkstaetten_Berlin_Potsdam.htm
allgemein Gedenstätten in Berlin

Orte erinnern. Spuren des NS-Terrors in Berlin. Ein Wegweiser
Johannes Heesch/Ulrike Braun
Günter Braun (Hrsg.)
Nicolai Verlag, erschienen August 2003
Broschiert, 236 Seiten
ISBN 3-87584-284-7
Euro 12,90200783415275"


Literatur

Beitrag vom 15.07.2005

AVIVA-Redaktion