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Beitrag vom 13.06.2005
Der Krieg hat kein weibliches Gesicht
Christiane Sanaa
Im Zweiten Weltkrieg kämpften ca. 1 Millionen Frauen in der Roten Armee. Ihre Erlebnisse wurden von der russischen Geschichtsschreibung ignoriert. Denn sie zeichnen ein anderes Bild vom Krieg.
Bis 1941 wurden in der Sowjetunion nur die Männer zum Kriegsdienst verpflichtet. Nach den großen Verlusten im Jahre 1942 wurden aber immer mehr Frauen rekrutiert. Sie stellten zeitweise bis zu 8 Prozent der Streitkräfte dar.
Eingesetzt waren sie in allen militärischen Bereichen: im Sanitätsdienst, in der Luftabwehr, im Nachrichtenwesen, bei der Versorgung und der politischen Arbeit.
Swetlana Aleksijewitsch hat diesen Frauen eine Stimme verliehen. Seit den 70er Jahren führt sie zahlreiche Interviews mit ehemaligen Soldatinnen, die bereits 1985 nach zweijährigem Kampf mit der Zensur veröffentlicht wurden. Jetzt ist eine Neuausgabe dieser erschütternden Geschichten erschienen. Sie enthält Passagen, die die Autorin in der ersten Ausgabe selbst zensiert und nicht veröffentlichte hatte. Es wurde neu von Ganna-Maria Braungardt ohne ideologische Motivation hervorragend und sensibel übersetzt. Hinzu kommt, dass sich mit den politischen Entwicklungen in Russland, mit der Perestroika auch die Blickrichtung auf die Vergangenheit geändert hat und viele Frauen ihre eigene Geschichte von ideologischen Vorgaben befreien konnten.
Frauen berichten anders über den Krieg. Ihr Blick offenbart Details und Nuancen des Kriegsalltags und der täglichen Konfrontation mit dem Tod, die dem offiziell geltenden Heldenmythos des Großen Vaterländischen Krieges deutlich widersprechen: Sie erzählen von wund gescheuerten Füße in Männerstiefeln, von Menstruationsblutungen bei Fußmärschen, ohne die Möglichkeit, sich zu waschen. Sie reden über Gespräche mit Kampfgefährtinnen, die Beisetzung ihrer Ehemänner und Kinder, über die Amputation zersplitterter Körperteile. Sie reflektieren ihre Emotionen, ihre Zweifel und Ängste, aber auch ihre Wut und Gewalttätigkeit. Sie berichten über ihre Freude am Schminken, abgeschnittene Haare, unerwünschte Schwangerschaften, Vergewaltigungen, über ihre Liebesbeziehungen und ihre Glücksgefühle nach einem Sieg.
Nach Kriegende wurden die Frauen demobilisiert. Während die männlichen Soldaten zu Helden und Veteranen verklärt wurden, führte die militärische Tätigkeit die Frauen in einen Beruf oder förderte deren Emanzipation. Den Frauen wurde zumeist mit Mißtrauen und Verachtung begegnet. Von höchster offizieller Stelle wurden sie dazu aufgefordert, ihre Erlebnisse zu verschweigen. Und sie selbst hatten massive Schwierigkeiten, wieder in die für sie vorgesehene weibliche Rolle zu schlüpfen.
"Ich war Scharfschützin. Siebenundvierzig tote Faschisten gehen auf mein Konto. Nach dem Krieg hab’ ich meinen Invalidenausweis zerrissen. Wer hätte mich denn sonst zur Frau genommen? Hab’ meine Verwundung versteckt. Dann geheiratet."
AVIVA-Tipp: Das Buch ist ein erschütterndes Zeitdokument, das durch den weiblichen Blick die menschlichen Tragödien, die dem Krieg zu eigen sind, zutage fördert. Es zeigt, wie vielschichtig Frauen agieren und erleben und in welchen Zwiespalt sie als Lebensspenderinnen auf der einen und Mörderinnen auf der anderen Seite geraten können. Die Form der "oral history" macht es authentisch und fast nachfühlbar.
Zur Autorin:
Swetlana Alexijewitsch wurde am 1948 in Iwano-Frankowsk in der Ukraine geboren. 1976 wurde ihr erstes Buch, in dem sie die Regierungspolitik der Sowjetunion kritisiert, verboten. Nach zweijährigem Kampf mit der Zensur veröffentlichte sie 1985 ihr zweites Buch. 1992 folgte "Zinkjungen", eine Dokumentation über den Afghanistan-Krieg, die sie endgültig zur radikalen Pazifistin gemacht hat: "Seitdem kann mich niemand mehr zwingen zu glauben, dass es gerechte Kriege gibt. Nirgendwo. Krieg - das ist Wahnsinn, legitimierter Wahnsinn, legitimiertes Verbrechen. Und im 21. Jahrhundert ist keinerlei Rechtfertigung von Krieg mehr möglich. Der Irak, da sind wir nicht ins 21. Jahrhundert gegangen, sondern zurück!"
1994 erschien "Im Banne des Todes", das von SelbstmörderInnen in der postkommunistischen Gesellschaft handelt, 1997 "Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft".
Swetlana Alexijewitsch erhielt zahlreiche Auszeichnungen für Ihr Werk:
1996 den "Kurt-Tucholsky-Preis" des PEN-Zentrums Schweden
1998 den "Triumph-Preis für Kunst und Literatur Russlands" und den "Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung"
2001 den "Erich-Maria-Remarque-Friedenspreis" der Stadt Osnabrück.
Weitere Informationen zur Autorin finden Sie unter:
www.alexievich.org
Der Krieg hat kein weibliches Gesicht
Swetlana Alexijewitsch
aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt
Berliner Taschenbuch Verlag, August 2004
ISBN:3-8333-0090-6
11,90 Euro
kartoniert, 304 S.200263756175"