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Beitrag vom 23.04.2005
Ein guter Platz für die Nacht
Sarah Ross
Savyon Liebrechts Erzählungen handeln von Beziehungen, Liebe und Verlust, vom Alltag in Israel und jüdischen Israelis im Ausland. Allen Figuren gemeinsam ist das Gefühl realer Entfremdung.
In ihren Erzählungen bettet die Autorin Savyon Liebrecht die Sehnsucht der ProtagonistInnen nach Zuflucht und Verwurzlung in die Schilderung sieben verschiedener Schauplätze ein: Amerika, ein Kibbuz, Tel Aviv, München, Hiroshima, Jerusalem und ein guter Platz für die Nacht. Dieser Sehnsucht und einer sicher geglaubten Zukunft stehen die schicksalhaften Wendungen des Lebens entgegen.
Die Autorin erzählt von einer Mutter, die kurz nach der Geburt ihre kleine Tochter verlässt, um ihrem Geliebten und dessen Tochter nach Amerika nach zu folgen. Als die eine Tochter viele Jahre später zum ersten Mal ihrer Halbschwester in Jerusalem begegnet, erfährt sie, dass Amerika ein einziger Alptraum für ihre Mutter gewesen ist, und nicht das erwartete, gelobte Land.
Im Kibbuz, dem unverbrüchlichen Symbol für Freiheit und Gleichheit und dem Ort seiner Kindheit, macht ein junger Mann eine schreckliche Entdeckung: Seine behinderten Eltern, die bei einem Unfall ums Leben kamen, waren dort als "Clowns" angestellt, ohne zu wissen, dass sie das Risiko von Zirkusakrobaten trugen. Während aus München ein israelischer Journalist über einen späten Nazi-Prozess berichtet, wird er Zeuge anti-muslimischer Ausschreitungen. Dabei wird das muslimische Mädchen, das er begehrt, getötet. Und die in Hiroshima lebende, erfolgreiche Architektin soll erfahren, dass sich ihre in Israel zurückgebliebene Jugendliebe als homosexuell entpuppt.
Liebrechts so unterschiedlich erscheinende Erzählungen haben eines gemeinsam: In jeder dieser Erzählungen ist eine Figur fern von zu Hause. Daher ist das, was sie alle miteinander verbindet, die Spannung zwischen den Menschen und den Orten, die Heimatlosigkeit der ProtagonistInnen, die vergebens auf der Suche nach häuslicher Sicherheit und Verwurzelung sind. Sie alle bewegen sich an einem Ort der Sehnsucht. Und sie alle erleben die Welt, sogar vertrautes Terrain, als feindselig.
Am Ende des Buches begibt sich die Autorin an einen "Nicht-Ort", an einen guten Platz für eine Nacht. Die letzte, titelgebende Erzählung kippt ins Surreale um, denn "Liebrechts Perspektive [wird] zur Pfeilspitze, die mitten ins Zentrum aller falschen Gewissheiten trifft" (der Verlag): In einer Herberge, versuchen einige wenige Menschen, nach einer Katastrophe zu überleben und betrachten hoffnungsvoll einen Sonnenaufgang. Es handelt sich hier um einen Ort, an dem alles Vertraute zerstört ist. Ein Ort, an dem sich Begegnungen ereignen, in denen "Menschliches, Historisches, Geschlechtliches, Schicksalhaftes sich wie in einem Brennglas bündelt" (der Verlag).
AVIVA-Tipp: Savyon Liebrecht versteht die Kunst, in ihren Geschichten das tiefste Innere des Menschen, dessen Seele, ans Tageslicht zu bringen. Sie spürt Familiengeheimnisse und verborgene sowie schmerzliche Wahrheiten individueller Lebensläufe auf, die sie uns in einer präzisen wie temporeichen Sprache erzählt.
Zur Autorin: Savyon Liebrecht wurde 1948 als Tochter polnisch-jüdischer Holocaustüberlebender in München geboren. Sie ist in Israel aufgewachsen und studierte Philosophie und Literaturwissenschaft in Tel Aviv. Heute lebt sie dort als Schriftstellerin. Ihre Erzählungen, Theaterstücke und ein Roman wurden mit den wichtigsten Literaturpreisen in Israel ausgezeichnet und sind Bestseller geworden. Sie gilt als eine der bedeutendsten Erzählerinnen des Landes. Ebenfalls auf Deutsch erschienen sind "Äpfel aus der Wüste" (1992), "Ein Mann und eine Frau und ein Mann" (2000) und "Die fremden Frauen" (2002).
Savyon Liebrecht
Ein guter Platz für die Nacht
Sieben Erzählungen
Aus dem Hebräischen von Vera Loos und Naomi Nir-Bleimling
Dtv, März 2005
300 Seiten, Klappenbroschur
ISBN 3-423-24424-0
16,-Euro
Deutsche Erstausgabe200475167175"