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Beitrag vom 25.10.2004
Die Wertheims. Von Erica Fischer und Simone Ladwig-Winters
Sharon Adler
Die Autorinnen rekonstruieren den Aufstieg der jüdischen Kaufmannsfamilie über die zwangsweise Arisierung und Enteignung durch die Nazis bis zur Klage gegen den jetzigen Eigentümer KarstadtQuelle
1875 eröffnet Abraham Wertheim in Stralsund ein kleines "Manufactur- und Modewaarengeschäft" - damit beginnt der rasante Aufstieg der jüdischen Kaufmannsfamilie. Abrahams Sohn Georg wagt 1884 den Sprung nach Berlin, und innerhalb weniger Jahre wird das Warenhaus Wertheim zum größten und prachtvollsten Europas. Erstmals werden die sozialen Grenzen zwischen Arm und Reich aufgehoben, denn für alle gelten die gleichen Preise.
Trotz permanenter antisemitischer Anfeindungen gelingt es Georg Wertheim, das Unternehmen erfolgreich durch den Ersten Weltkrieg und die schwierigen zwanziger Jahre zu bringen. Die Nationalsozialisten besiegeln dessen Schicksal: Wertheim wird schrittweise "arisiert" und 1938 für "deutsch" erklärt. Die Familie ermordet oder in alle Winde zerstreut.
Ein in der Hetzzeitschrift "Der Stürmer" veröffentlichtes Gedicht kennzeichnet das Deutschland von 1936:
"Ins Judenkaufhaus gehen wir nicht!"
Die Mutter zu dem Kinde spricht
"Nur deutsche Waren kaufen wir
Mein liebes Kind, das merke Dir
Nur das, was deutsche Hand geschafft
Durch deutschen Fleiß und deutsche Kraft
Soll´n deutsche Frauen kaufen
Nun wollen wir nun laufen
Ins Haus der deutschen Waren
Wo wir auch mehr ersparen
Weil billig alles ist und echt
Beim Juden aber kauft man schlecht"
Drum merke, was die Mutter spricht
"Bei einem Juden kauft man nicht!"
Nach Georg Wertheims Tod 1939 heiratet seine Witwe den Justitiar der Firma.
Nach dem Krieg gelingt es ihm, weitere ErbInnen um ihren Besitz zu bringen und alles an Hertie zu verkaufen.
Fünfzig Jahre später beginnt ein spektakuläres Entschädigungsverfahren: Nachfahren der Warenhausdynastie klagen gegen den jetzigen Eigentümer: KarstadtQuelle.
So vertritt die Anwaltskanzlei Osen & Associate in New York die Wertheim-Nachfahren gegen die KarstadtQuelle AG wegen betrügerischen Erwerbs des Wertheim Konzerns und dessen Immobilien-Beteiligungen.
Die Jewish Claims Conference konnte erreichen, dass das Bundesfinanzministerium offiziell die Rücknahme seiner Klage gegen vier Entscheidungen des Landesamtes offener Vermögensfragen (LaRoV) zugunsten der Wertheim-ErbInnen beschloss. Dennoch konnte bis heute die Rechtsnachfolge von KarstadtQuelle nicht anerkannt werden....
AVIVA-Tipp: Kein Hinweisschild erinnert in Berlin auf dem 27.000 Quadratmeter großen, brachliegenden Geländer an der Leipziger Straße an das ehemals schönste und größte Warenhaus Europas. Erica Fischer und Simone Ladwig-Winters lassen das spannende Porträt einer außergewöhnlichen Unternehmerfamilie lebendig werden. Mit diesem Buch und einer außergewöhnlichen Recherchearbeit haben sie ihnen ein Denkmal gesetzt.
Die Autorinnen:
Erica Fischer, geboren in England, studierte in Wien Sprachen und lebt seit 1988 als freie Autorin in Deutschland, heute in Berlin. Ihre dokumentarische Erzählung
"Aimée & Jaguar" wurde ein Weltbestseller. Bei Rowohlt.Berlin erschien zuletzt
"Die Liebe der Lena Goldnadel" (2000).
Lesen Sie hier das Interview mit Erica Fischer.
Simone Ladwig-Winters promovierte über die Geschichte des Warenhauses Wertheim und untersuchte das Schicksal jüdischer JuristInnen in Deutschland. Sie lebt als freie Wissenschaftlerin in Berlin. Zuletzt veröffentlichte sie "Freiheit und Bindung. Zur Geschichte der jüdischen Reformgemeinde zu Berlin" (2004).
Die Wertheims.
Geschichte einer Familie.
Erica Fischer, Simone Ladwig-Winters
19,90 Euro
Rowohlt Verlag Berlin, erschienen September 2004
ISBN/EAN 3-87134-443-5
382 Seiten, gebunden, 50 Abbildungen200480519475"