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Beitrag vom 11.09.2003
Donna Tartt: Der kleine Freund
Meike Bölts
Nach 10 Jahren erscheint der zweite Roman der Amerikanerin Donna Tartt: Ein Südstaaten-Epos über Schuld, Unschuld, Trauer und Verzweiflung.
Ich gestehe: Ich gehöre zu der Minderheit der lesenden Schar, die bis vor Kurzem noch nichts von Donna Tartt gehört hatte. Ich wusste nichts von ihrem Erstling: Die geheime Geschichte, erschienen 1992, übersetzt in 23 Sprachen, drei Monate an der Spitze der New York Times-Beststellerliste, eingeschlagen wie eine Bombe, die der Autorin Vergleiche mit Mark Twain, Charles Dickens und Raymond Chandler einbrachte. Ich gehörte auch nicht zu der treuen Fangemeinde der damals 28jährigen, smarten, blendend, wenn auch etwas düster aussehenden Donna Tartt, die sehnsüchtig auf das Nachfolgewerk wartete. Ich war sozusagen komplett unbeleckt, als mir Der kleine Freund in die Hände fiel.
Und was lag da in meinen Händen? 763 Seiten, 7 Kapitel plus Prolog, beginnend mit: "Für den Rest ihres Lebens würde Charlotte Cleve sich die Schuld am Tod ihres Sohnes geben." Grandios, wie Tartt hier mit dem ersten Satz die Stimmung der nächsten 200 Seiten aufbaut. Unfähig, den Tod des 9jährigen Robins zu verarbeiten, stürzt die Familie - Charlotte, ihre Mutter, ihre drei Großtanten und ihre beiden Töchter - in einen Dämmerschlaf, aus dem sie ab und an erwacht, um an den großen Schmerz erinnert zu werden. Denn Robin starb nicht eines natürlichen Todes.
12 Jahre später: Die inzwischen 13jährige Harriet, die kleinere Schwester Robins, hat zwei Wünsche: Sie will Robin zurück und sie will seinen Mörder finden. Gemeinsam mit Hely, einem sie anhimmelnden Nachbarsjungen, macht Harriet sich auf die Suche und stößt auf Danny Ratliff, einen kriminellen, drogensüchtigen Redneck, der - wie sie durch Zufall erfährt - am Nachmittag von Robins Tod im Garten der Cleves gesehen wurde. Ist er derjenige, den sie sucht?
Bis hierhin war alles so, wie es sein sollte: Ich war gefesselt von einem Buch, von dem ich - wie ich später hörte - begeistert sein sollte. Doch dann passierte etwas Unerwartetes: Das Buch begann mich zu langweilen. Scheinbar ewig jagen Hely und Harriet Schlangen, viele neue Charaktere bevölkern relativ motivationslos die Szenerie. Geschichten werden begonnen und dann, meist genau in dem Moment, in dem der Spannungsbogen gerade ins Schwingen kam, wieder fallen gelassen. Vielleicht hat Tartt zu großes Vertrauen in mein Durchhaltevermögen, wenn sie all diese Geschichte erst im letzten Viertel des Buches zusammenführt, um dann nicht wirklich eine Auflösung zu geben.
Aber selbst wenn eine Geschichte mich enttäuscht, kann doch der Stil begeistern. Denn - wie ich später in einem Interview las - bevorzugt Tartt selber immer die Geschichten, die Stil haben gegenüber denen, die erzählen. Bestenfalls fallen beide Qualitäten natürlich zusammen, aber dies ist bei Der kleine Freund sicher nicht der Fall, also noch ein paar Worte zum Stil: Als allwissende Erzählerin widmet Tartt sich ausschweifend der Darstellung von Details. Zum Beispiel der Beschreibung einer blauen Fliese im herrschaftlichen Haus der Familie, die den Zerfall des Hauses und der Familie überlebt hat. Hier zeigt Tartt ihr ganzes Können und begeistert. Gewagt, aber geglückt, ist auch die Perspektive des jungen Mädchens, das naiv und unbedacht in größte Gefahren schlittert.
Die AVIVA-Bewertung: Beschränkung hätte dem Roman sehr gut getan, denn schreiben kann Tartt. Das hat sie bewiesen, nicht nur mit ihrem ersten Roman, den ich sicher noch lesen werde, sondern auch mit Der kleine Freund. Dieser Roman ist allerdings wirklich nichts für hastige Leserinnen und Leser.
AVIVA-Berlin verlost 3 Gewinnexemplare. Bitte nennen Sie uns den Titel des Erstlingswerkes von Donna Tartt und senden Sie uns bis zum 10.10.03 eine mail an folgende Adresse: gewinnspiel@aviva-berlin.de
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Donna Tartt
Der kleine Freund
Goldmann Verlag, 10. September 2003
ISBN: 3-442-30668-X
Preis: 24,90 EUR200864677575"