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Beitrag vom 05.11.2003
Französische Aufklärung und sozialistische Wirklichkeit
Jana Scheerer
Wer den "Hinze-Kunze-Roman" liebt, sollte dieses Buch lesen: Isabella von Treskow zeigt auf faszinierende Weise, wie Volker Braun Diderots "Jacques le fataliste" als Folie für seinen Roman nutzt
Die Verarbeitung klassischer Texte ist in der Literatur ein gängiges Stilmittel - und hat stets den Effekt, dass Bedeutung und Geschichte des "alten" Textes in den "neuen" mit einfließen. Dieses Phänomen der Intertextualität betrifft auch Volker Brauns "Hinze-Kunze-Roman", der sich Dennis Diderots "Jacques le fataliste et son maître" bedient.
Nun ist Brauns Roman über einen Parteisekretär und seinen Fahrer auch ohne den Verweis auf Dennis Diderot eines der bedeutendsten Werke der DDR-Literatur - und zudem ein außerordentlich amüsantes und spannendes Buch. Doch die Kenntnis von Diderots "Jacques le fataliste" erschließt eine weitere faszinierende Ebene des "Hinze-Kunze-Romans."
Der Philosoph und Schriftsteller der Aufklärung Dennis Diderot erzählt die Geschichte des fatalistischen Jacques, der mit seinem Herren durch die Gegend zieht - ohne ein wirkliches Ziel zu haben. Auf den Pferderücken nebeneinander hertrabend, führen Jacques und sein Herr lange Gespräche, in die viele philosophische Ideen Diderots einfließen.
Braun verlegt diese Konstellation in den Dienstwagen Kunzes, der sich als Parteisekretär von seinem Fahrer Hinze durch die Gegend chauffieren lässt. Auch hier geben die gemeinsamen Fahrten Anlass zu allerlei Konversationen, bei denen im Gegensatz zum geschwätzigen Jacques Hinze jedoch oft lieber den Mund hält.
Pikant ist natürlich schon die Übertragung der Herr-Diener-Konstellation auf den sozialistischen Alltag - in dem Hinze und Kunze ja eigentlich gleichberechtigte Genossen sein sollten. Nicht von ungefähr beteuert Kunze immer wieder, dass er als Parteisekretär eigentlich Hinze, dem "Werktätigen", diene. Mit eben solchen Anspielungen gelingt es Braun, die Vorlage Diderots für subtile Kommentare über die gesellschaftliche und politische Situation der DDR zu nutzen.
Isabell von Treskow zeigt in ihrer Dissertation "Französische Aufklärung und sozialistische Wirklichkeit" auf, wie vielen Ebenen die Übertragung der Geschichte von Jacques, dem Fatalisten in den sozialistischen Alltag funktioniert. Denn Braun übernimmt nicht nur Diderots Figurenkonstellation, sondern auch seine stilistischen Mittel, die er gekonnt weiterentwickelt.
So nutzt Braun Diderots "rollenbewussten Erzähler", um die Auseinandersetzung der DDR-AutorInnen mit Zensurbehören zu parodieren: Die Instanz des "professionellen Lesers" gibt Kommentare zur politischen Tragbarkeit des Buches, der Autor muss den Text sogar vor einer Kommission verteidigen. All das findet auf der gleichen Erzählebene statt wie die Geschichte Hinzes und Kunzes - so dass es sogar zu einem Treffen der Figuren mit dem Autoren kommt.
Auch die gattungsgeschichtlichen Erläuterungen der Autorin geben Einblicke in sowohl Brauns als auch Diderots Werk. Während Diderot mit seinem Anti-Roman" durch Brüche, Genrewechsel und einen rollenbewussten Erzähler mit der Romanpoetik des 18. Jahrhunderts zu brechen versucht, setzt Braun ähnliche Mittel ein, um die DDR-Gattungen des Entwicklungs- und Aufbau- und Ankunftsromans zu konterkarieren.
Isabella von Treskow erleichtert durch ihre Analyse den Zugang zu den "versteckten" Tiefen des Hinze-Kunze-Romans - und schafft es überdies, das Vergnügen an zwei faszinierenden Stücken Literatur noch zu vergrößern.
So ist Französische Aufklärung und sozialistische Wirklichkeit" kein Buch für den geisteswissenschaftlichen Elfenbeinturm, sondern gibt vielmehr jeder Leserin Aufschluss über literarische Verfahren und ihre gesellschaftliche Bedeutung. Fast scheint das Buch einen "Blick hinter die Kulissen" zu gestatten und ist - auch dank seiner klaren Sprache - mindestens so spannend zu lesen wie seine beiden Untersuchungsgegenstände.
Der AVIVA-Tipp: Ein Schmöker, der Spaß und schlau macht!
Isabella von Treskow
Französische Aufklärung und sozialistische Wirklichkeit
Dennis Diderots "Jacques le fataliste" als Modell für Volker Brauns "Hinze-Kunze-Roman"
Verlag Könighausen und Neumann, 1996
ISBN 3-8260-1227-5
44,00 Euro