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Beitrag vom 31.07.2003
Durch die Hölle der Gewalt von Samira Bellil
Sabine Grunwald
Dieser erschütternde Lebensbericht ist von erschreckender Aktualität. Er legt ein schockierendes Zeugnis ab über die sexuelle Gewalt von Männern gegen Frauen
Samira Bellil, 1973 in Algier geboren, wächst als Tochter algerischer Einwanderer in einem Vorort von Paris auf. Dreimal, im Alter von vierzehn und siebzehn, wird sie Opfer von gemeinschaftlichen Vergewaltigungen. "Tournantes", Herumreichen, nennt man Gruppen-Vergewaltigungen, die in den gewaltbeherrschten "Banlieues" (Vororten) auch heute noch zum Alltag gehören.
In ihrem muslimischen Elternhaus findet sie weder Trost noch Unterstützung. Ihr Vater gibt ihr die Schuld an ihrem Unglück und wirft sie aus der Wohnung. Von Scham und Schuldgefühlen gepeinigt, richtet Samira die erfahrene Gewalt gegen sich selbst und andere. Sie reagiert mit Herumstreunen, Alkohol- und Drogenexzessen und zerstört sich zunehmend selbst. Erst Jahre später gelingt es ihr, mit Hilfe einer verständnisvollen Therapeutin und durch das Schreiben, diesen Kreislauf der Selbstzerstörung zu durchbrechen.
Samiras Buch berührt die Leserin mit kühler Sachlichkeit. Die distanzierten Beschreibungen lassen die tiefen Demütigungen umso deutlicher werden. Sie schreibt im Präsens, wodurch ihre erschütternden Erfahrungen für die Leserin umso wahrhaftiger und spürbarer werden. Durch die direkte, eigenwillige und kraftvolle Sprache - oftmals verwendet sie den Jargon der Jugendlichen - vermittelt sie Authentizität. Die Autorin hat keinen "Betroffenheitsbericht" geschrieben, sondern ein literarisches Werk, mittels dessen sie die demütigenden Erfahrungen verarbeiten und sich aus ihrem Elend befreien konnte. "Ich denke, mit diesem Buch kann ich in gewisser Weise meine Würde wiederherstellen. Zuvor verging kein Tag, an dem ich nicht an meine Erniedrigung gedacht habe", sagt sie. Bellil gelingt es immer wieder, sich sprachlich von ihren qualvollen Erlebnissen zu entfernen und poetisch zu schreiben. Ihren Aufenthalt im Heim schildert sie so: "Ich habe ein eigenes Zimmer, das ich abschließen kann. Aus dem Fenster sieht man auf einen ruhigen Garten. Ruhig wie ganz Nogent-sur-Marne, mit seinen Bäumen, den Spaziergängen am Ufer im Sommer, den verwaschenen Farben im Winter."
Die Autorin lebt heute in Saint-Denis bei Paris und arbeitet als sozialpädagogische Betreuerin für Kinder und Jugendliche. Sie engagiert sich, zusammen mit anderen Frauen, gegen den sexuellen Missbrauch von Mädchen und Frauen.
Durch die Hölle der Gewalt
Samira Bellil
Aus dem Französischen von Gaby Wurster
Pendo Verlag, 2003
ISBN 3-85842-560-5
19,90 €,
288 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag