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AVIVA-BERLIN.de im Dezember 2024 - Beitrag vom 30.10.2002


Ute Kätzel: Die 68erinnen
Meike Bölts

Um Geschichte zu begreifen, brauchen wir Menschen, deren Lebenswege wir verfolgen können




Getreu diesem Motto lässt Ute Kätzel in Die 68erinnen 14 Frauen zu Wort kommen.

"Um Geschichte zu begreifen, brauchen wir Menschen, deren Lebenswege wir verfolgen können." Getreu diesem Motto lässt Ute Kätzel in Die 68erinnen 14 Frauen zu Wort kommen. Die Frauen erinnern sich zurück an die Bewegung, die bis zum heutigen Zeitpunkt ihr Leben maßgeblich prägte.

Sie galten als die "Bräute der Revolte" oder "die Freundin von...". Während Dutschke, Ohnesorg und Co. bekannte Namen sind, stehen die Frauen der Bewegung von 1968 oft im Schatten. Doch Ute Kätzel zeigt, dass die Frauen sehr wohl politische Akteurinnen waren.

Die Autorin arbeitet als Historikerin, Soziologin und Journalistin in Berlin zu den Themen historische Friedensforschung, Genderforschung und zu der Geschichte der Frauenbewegungen.

In Interviews mit 14 sehr unterschiedlichen Frauen - zum Beispiel Sarah Haffner, Helke Sander und Frigga Haug - breitet sie Facetten weiblicher Aktivitäten in Berlin rund um den Vietnam-Kongress, den SDS, die Kinderläden, die Kommunen 1 und 2, die Kommune 1 Ost und vielem mehr aus. Diese zum Teil sehr persönlichen und subjektiven Rückerinnerungen an die 68er-Bewegung geben den LeserInnen die Möglichkeit, einen anderen Blick auf Geschichte werfen zu können. Mehr über die Hintergründe können Sie in unserem Interview lesen.

AVIVA-Berlin: Warum haben Sie beschlossen, sich dem Projekt "Die 68erinnen" zu widmen? Wollten Sie als Historikerin eine Lücke schließen? Gab es eine persönliche Motivation?

Ute Kätzel: In meinen verschiedenen Projekten als Historikerin, Soziologin und Journalistin spielt die Lust immer eine große Rolle. Es ist immer eine Melange aus den zwei Polen: persönliches Interesse und gründliche Recherche.
Bei mir kommt die Lust nicht daher, dass ich eine 68erin bin, dafür bin ich knapp zu jung. Ich habe sehr wohl in der fränkischen Provinz die Auswirkungen der Zeit miterlebt: Ich war zum Beispiel mit 15 bei meiner ersten Vietnam-Demo. Dieses Politische gab es schon in meiner frühen Jugend. Ich bin selbst allerdings erst durch die Frauenbewegung politisch tätig geworden. Dieses Engagement ist sicher ein Grund, warum ich dieses Buch gemacht habe.
Natürlich habe ich als Historikerin gemerkt, dass die Frauen immer wieder durch das Raster fallen. Auch hier in Berlin, obwohl es ja eine sehr starke Gruppe von 68ern und auch 68erinnen gibt, die sich noch immer so bezeichnen, kommen diese Frauen bei den diversen Jahrestagen einfach nicht zu Wort. Warum?
Ich bin dann darauf gestoßen, dass es tatsächlich wenig über diese Frauen gibt. Und wenn, dann fast ausschließlich im Zusammenhang mit der sogenannten "Tomatenrede" von Helke Sander vom "Aktionsrat zur Befreiung der Frauen" bei der "23. SDS-Delegiertenkonferenz" im September 1968, als eine SDSlerin Tomaten warf, weil die "Genossen" nicht über die Probleme der Frauen reden wollten. Die Frauen in den anderen Bereichen der Revolte werden verschwiegen.
Und natürlich war mir das Frauenforschungsstipendium des Berliner Senats für zwei Jahre eine große Hilfe: Ich konnte die ausführlichen Interviews führen und gründlich recherchieren. Das war dann letztlich die Möglichkeit, mich dieser Thematik zu widmen, denn es erforderte natürlich auch ausgiebige Forschungsarbeiten.

AVIVA-Berlin: Warum gibt es so wenig Material über die Frauen dieser Zeit? Warum nur sehr wenige autobiographische Texte?

Ute Kätzel: Dafür gibt es einen Grund, den ich klar benennen kann: Man definiert sich in erster Linie über die Zeit, in der man tatsächlich politisch aktiv war. Und bei vielen Frauen war dies nicht nur 1968. Politische Aktivität - im Sinne von Dinge zu bewegen - zieht sich bei den interviewten Frauen durch das ganze Leben: Zum Beispiel in der Frauenbewegung oder in Bürgerinitiativen oder auch in beruflicher Hinsicht. 1968 sticht für sie dann nicht so hervor. Mit 1968 ging es los und die Frauen nahmen diese Energie für neue Aktivitäten mit.
Während manche Männer, die 1968 intensiv politisch aktiv waren und danach bürgerliche Berufe ergriffen - Lehrer, Professoren, wenige in der Wirtschaft, kreative Berufe, Journalismus - Politik aus ihrem Leben fast ausgeschlossen haben, vielleicht auch, weil sie glauben, dass sich das nicht mit ihrer beruflichen Karriere vereinbaren lässt. Und dann blickt man zurück und ist der "68er".

AVIVA-Berlin: Wie hat sich die Recherche nach den Frauen gestaltet?

Ute Kätzel: Die habe ich zum Teil erstaunlicherweise tatsächlich über die Literatur gefunden, denn in den Büchern kommen die Frauen sehr wohl vor, wenn auch nur wenig.
Dann habe ich angefangen, die Frauen ausfindig zu machen und sie anzurufen. Ich habe Protokollbücher voll mit diesen Telefonmitschriften. Und durch diese vielen Gespräche hat sich dann immer mehr herauskristallisiert, wer wichtig war, wer damals wirklich aktiv war und eigene Ideen eingebracht hat. Ich kam wieder an neue Namen. So ergab sich ein Pool von 120 Frauen. Nach einem ersten Brief reduzierte er sich dann auf 80 Frauen, denn zum Teil waren die Frauen dann doch zu jung, zu alt oder nicht so aktiv.
Außerdem war es mir wichtig, Berlin in den Mittelpunkt zu stellen: Zum Einen, weil Berlin ungemein wichtig war für die Bewegung als Ganzes. Hier sind nun mal unheimlich viele Dinge passiert - der Tod von Benno Ohnesorg, das Attentat auf Rudi Dutschke, die Ohrfeige von Beate Klarsfeld, die Gründung des "Aktionsrates zur Befreiung der Frauen", Kommune 1, die Kinderläden. Zum Anderen, weil ich so die Vernetzung der Bewegung zeigen konnte.

AVIVA-Berlin: Haben viele Frauen die Zusammenarbeit abgelehnt?

Ute Kätzel: Es gab schon Einige. Es wurde schon durch die Vorgespräche eine starke Betroffenheit sichtbar. Zum Teil konnten die Frauen sich dieser Zeit noch nicht öffnen. Was die Frauen verändert haben und mit ihrem eigenen Leben exemplarisch durchexerziert haben, war nicht immer leicht. Sie haben für die nachfolgenden Generationen Breschen geschlagen.
Aber es gab viele persönliche Verletzungen - natürlich auch politische Konflikte - die sich bis in die späten 90er Jahre zogen. Für manche Frauen war es so: "Da möchte ich erst in Rente gehen, da habe ich dann Zeit, mich mal mit dieser Phase zu beschäftigen."
Ich war jedoch andererseits sehr fasziniert von der sehr großen Bereitschaft zu reden. Viele Zeitzeugen empfinden es als Erleichterung, einmal im Zusammenhang ihre Geschichte zu erzählen. Nicht jeder erhält die Chance sich so im Freundes- oder Bekanntenkreis zu reflektieren. Manche Oral-History-ForscherInnen sagen auch, dass es etwas Heilendes haben kann: Endlich mal in Ruhe alles jemandem erzählen.

AVIVA-Berlin: Wie haben Sie dann letztendlich die Auswahl der 14 Frauen getroffen?

Ute Kätzel: Insgesamt habe ich 33 lebensgeschichtliche Interviews geführt, aus verschiedenen Gründen sind wieder einige herausgefallen. Im Laufe der Recherche hat sich dann für mich herausgestellt, wen ich unbedingt wollte: Eine Vertreterin der Kommune 1, eine der Kommune 2, außerdem eine der Kommune 1 Ost - viele wissen gar nicht, dass es sie gab -, jemanden vom "Aktionsrat zur Befreiung der Frauen" - Helke Sander und ihre Gegenspielerin Frigga Haug. Sarah Haffner als Künstlerin und Sigrid Fronius aus der Politikszene.
Die amerikanischen SDS (American Students for Democratic Society) mit ihrer GI-Arbeit wollte ich unbedingt dabei haben: Soldaten wurden von amerikanischen BürgerInnen zum Desertieren aufgefordert und bei ihrem Widerstand innerhalb der Armee unterstützt - das wissen nicht viele.
Gretchen Dutschke-Klotz wollte ich gerne in ihrer Eigenschaft als Beatnik-Dichterin vorstellen, damit einmal deutlich wird, warum sie als Gesprächs- und Lebenspartnerin für Rudi Dutschke so interessant war. Sie war nicht nur einfach eine Amerikanerin mit langen dunklen Haaren, sondern sie hatte wirklich was auf dem Kasten. Auch ihre Kommune-Idee, aus der die bekanntesten Kommunen 1 und 2 hervorgingen, wollte ich aus ihrer Sicht der Dinge dokumentieren.

AVIVA-Berlin: Für welche Methode haben Sie sich entschieden und warum?

Ute Kätzel: Ich habe mich für ein lebensgeschichtliches Interview, welches auch zwei Teilen bestand, entschieden. Zunächst stellte ich Impulsfragen, um die Erzähllust zu stimulieren, ohne weiter in den Redefluss der Frau einzugreifen.
Der zweite Teil bestand dann aus einem Leitfaden von mir, mit dem ich meiner Forschungsidee nahe kommen wollte: Wie nahmen die Frauen einander wahr? Gab es Frauensolidarität? Wie war die Identität als Frau? Wie war der Umgang in Liebesbeziehungen? Wie haben die Frauen die sexuelle Revolution erlebt?
Zum Teil dauerte dies fünf Stunden. Generell lässt man bei dieser Art der Befragung geschehen. Es gab Vor- und Nachgespräche, die Frauen haben die Texte autorisiert. Aus einem Interview wurde dann in einem gemeinsamen Prozess ein literarisierter Erzähltext in Ich-Form.

AVIVA-Berlin: Haben die Frauen die Möglichkeit genutzt, im Nachhinein einen Sinn zu konstruieren?

Ute Kätzel: Generell: Immer, wenn man mit Zeitzeugen arbeitet, muss man sich darauf einlassen, dass die Interviews autorisiert werden müssen. Was eine Person von sich selbst preis geben will, bleibt komplett ihr selbst überlassen. Um Informationen von diesen Menschen zu bekommen, muss bis zum letzten Moment ein Vertrauensverhältnis herrschen.
Die Frauen haben dem Ganzen im Nachhinein keinen anderen Sinn gegeben. Sie haben allenfalls Aspekte heraus genommen oder umformuliert. Die Wahrnehmung ist beim Erzählen und beim späteren Lesen häufig eine ganz andere. "Will ich überhaupt, dass die Öffentlichkeit das über mich erfährt?" Mir war ja wichtig, dass am Ende die Frauen mit dem Interview leben können, also habe ich diese Korrekturen zugelassen.
Im Nachhinein neigt man schon dazu, das, was man erlebt hat, ins eigene Leben zu integrieren, aus seinem Leben einen Faden, eine Erzählung zu machen. Brüche werden jedoch auch sichtbar. Wenn ich die Zeit zurückerinnere, sehe ich auch viele Verletzungen - "das war nicht nur gut für mich" -, vielleicht würde ich es heute anders machen: Sarah Haffner sagt das zum Beispiel so.

AVIVA-Berlin: Ist Ihre eigene politische Arbeit für Sie hinderlich gewesen? Wäre jemand mit mehr Distanz anders mit dem Thema umgegangen?

Ute Kätzel: Jemand anderes wäre gar nicht an das Thema gegangen. Meine These ist, dass viele Bücher über Frauen- und Genderthemen aus einem bestimmten sehr eigenen Interesse entstehen.
Für manche Historikerinnen ist es heute noch besser, über Männer zu schreiben, weil sie dann nicht in den Ruf geraten, Feministinnen zu sein. Ich habe damit keine Probleme, ich habe mich schon seit längerem als Feministin "geoutet".
Jeder Mensch hat ein eigenes Erkenntnisinteresse, das biographisch gesteuert ist. Ich gehe damit offen um, während andere das vielleicht einfach nicht zugeben. Eine andere Frau - zum Beispiel eine Anti-Feministin - hätte sicher ein anderes Buch geschrieben, aber bestimmt kein neutraleres. Ich glaube aber nicht, dass meine eigene Biographie meiner Forschungsarbeit hinderlich gewesen ist.
In meinem Nachwort habe ich bewusst mein Erkenntnisinteresse offen gelegt. Nachdem ich diese bewegenden und authentischen Geschichten erzählt bekommen hatte, empfand ich es als notwendig, auch etwas von meiner eigenen Geschichte zu zeigen.

AVIVA-Berlin: Seit dem Erscheinen des Buches am 22. März 2002 werden Sie nicht nur als Spezialistin für 1968 verstanden, sondern häufig auch zur heutigen Frauenbewegung befragt. Fühlen Sie sich in diesen beiden Rollen wohl?

Ute Kätzel: Ja, ich kann sehr gut damit leben, als Spezialistin für die Zeit verstanden zu werden. Gerade meine sehr direkte Arbeit mit Zeitzeuginnen erlaubt mir einen komplett anderen Blick auf die Zeit als die Arbeit in Archiven und mit Dokumenten. Ich kann dadurch neue Impulse geben.
Ich habe natürlich Verständnis, wenn ich zur heutigen Frauenbewegung befragt werde. Ich habe die Frauen in den Interviews schon gebeten, durch die Frage "Was hat diese Bewegung gebracht?" eine Art Resümee zu ziehen. Diese Frage mir zu stellen, ist dann natürlich verständlich.

AVIVA-Berlin: Welche Reaktionen des Publikums bekamen Sie auf das Buch?

Ute Kätzel: Was mich sehr freut: Die LeserInnen des Buches geben mir überwiegend positives Feedback. Egal, welchen Alters. Die Älteren (Frauen und Männer) sagen, "ich erinnere mich jetzt wieder", "Zeitgeschichte, spannend dargestellt".
Bei der professionellen Leserschaft aus dem Journalismus und der Wissenschaft: Die jüngeren Leserinnen reagieren äußerst positiv, offen - zum Teil auch geschockt über die Verhältnisse. Die der mittleren Generation reagieren manchmal bitter und enttäuscht. Vielleicht, weil sie als Kinder der 68erinnen aus ihrem persönlichen Erleben heraus betroffen sind. Vielleicht ist für diese Frauen auch zu wenig passiert. Viele Probleme, vor allem die Kinderbetreuungsfrage, sind noch nicht gelöst. Die älteren Frauen scheinen eine gewisse Distanz erreicht zu haben.

AVIVA-Berlin: Arbeiten Sie bereits an einem neuen Projekt?

Ute Kätzel: Ich rede ungern über Projekte, wenn es nicht schon feste Zusagen gibt, aber das Thema hat mich gepackt und ich denke da durchaus auch in andere Richtungen weiter: Film, Rundfunksendungen, ein weiteres Buch? Es macht einfach Spaß zu einem Thema zu arbeiten, über das man schon so viel weiß. Man hat andere gedankliche Vernetzungsmöglichkeiten.



Rowohlt Berlin, März 2002
Preis: 22,90 EUR
ISBN 3-87134-447-8
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Beitrag vom 30.10.2002

AVIVA-Redaktion