AVIVA-Berlin >
Literatur
AVIVA-BERLIN.de im Oktober 2024 -
Beitrag vom 08.05.2006
Grenzgängerinnen der Moderne
Karin Effing
Der Band "Gelebte Sehnsucht", herausgegeben von Susanne Nadolny und erschienen bei der Edition Ebersbach, stellt 8 Künstlerinnen vor. Von Helen Hessel über Claire Goll bis Annemarie Schwarzenbach
"Die Frauen sind die Zukunft der Welt. Ihre Kraft ist noch nicht entdeckt, aber war denn der elektrische Strom schon immer bekannt? Sie wird noch Berge versetzen, diese Kraft, diese Mischung aus Instinkt und Energie, die ganz und gar Hexerei ist, weil sie noch niemand versteht. Keine Amazonen, Frauen, wie man sie sich fraulicher kaum vorstellen kann, mit Brüsten, langen Haaren, empfindsam, sanft… und stark." zitiert die Herausgeberin Susanne Nadolny die französische Schriftstellerin Elsa Triolet programmatisch im Vorwort.
Vier Autorinnen - Unda Hörner, Alexandra Lavizzari, Susanne Nadolny (auch die Herausgeberin) und Jutta Rosenkranz - stellen in acht Kapiteln die extrem unterschiedlichen Werdegänge und Lebensweisen der Künstlerinnen vor, die alle, außer Annemarie Schwarzenbach, gegen Ende des 19. Jahrhunderts geboren wurden. Die begabten und ehrgeizigen Frauen nutzten das angehende Jahrhundert, das sowohl von neuen Freiheiten als auch von alten Einschränkungen geprägt war, um sich als Schriftstellerinnen, Designerinnen oder Journalistinnen zu etablieren.
Da ist zum Beispiel Mina Loy, die mit ihren dissonanten und explizit sexuellen Gedichten einen kleinen Literaturskandal provozierte. Die umtriebige Malerin, Dichterin, Schauspielerin und Designerin bereiste Florenz, London, Paris, Mexiko und Amerika und hatte 4 Kinder von 2 Ehemännern.
Die trinkfreudige Schriftstellerin und Journalistin Dorothy Parker wurde in New York durch ihre bissigen Verrisse schnell bekannt und äußerst beliebt. Nach ihrer ersten gescheiterten Ehe lebte sie im Algonquian Hotel in einer Suite. Hier verbrachte sie einen Großteil ihrer Zeit im Speisesaal mit prominenten ZeitungsverlegerInnen, TheauterautorInnen und LiteratInnen.
Der Name der als Malerin ausgebildeten Modejournalistin Helen Hessel ist wahrscheinlich den wenigsten ein Begriff. Umso mehr ist es die Figur, für die sie als Vorlage diente: Catherine in Truffauts Film Jules et Jim. Sie war zweimal mit Franz Hessel, dem Vater ihrer beiden Kinder verheiratet. Mit dem Schriftsteller und Kunstsammler Henri-Pierre Roché verband sie eine tiefe Liebe. Er war es auch, der die Dreiecksgeschichte der drei Liebenden literarisch umsetzte.
Die in Neuseeland geborene Schriftstellerin Katherine Mansfield kam zwar aus einer der angesehensten und reichsten Familien des Landes. Sie wurde jedoch finanziell auf Sparflamme gesetzt, nachdem sie unverheiratet schwanger wurde und noch während der Schwangerschaft einen anderen Mann ehelichte, den sie nach wenigen Tagen wieder verließ. Von ihr stammen die kunstvolle und äußerst sprachgewandte Kurzgeschichten wie Das Gartenfest und Das Puppenhaus.
Claire Goll nutzte ihre Tätigkeit als Schriftstellerin und Journalistin, um sich für den Pazifismus und den Feminismus zu engagieren. Sie hatte ein Liebesverhältnis mit dem Dichter Rainer Maria Rilke.
Nancy Cunard gründete den Verlag Hours Press, der seinen Sitz in der Nähe des Künstlerbuchladens Shakespeare and Company in Paris hatte. Sie gab Bücher von Ezra Pound und Samuel Beckett heraus. Ihr Interesse verlosch jedoch in dem Moment, als ihr Geschäft florierte. Sie verliebte sich in den schwarzen Pianisten Henry Crowder und heiratete ihn. Ein Skandal für die damalige Zeit. Ihre Mutter hetzte die Polizei auf sie, während einer Amerikareise drohte ihr sogar der Klu Klux Klan und sie wurde mit ihrem Ehemann eines Hotels verwiesen. Der Kampf gegen die Diskriminierung wurde zu ihrer Lebensaufgabe.
Politik prägte auch das Schaffen der in Russland geborenen Jüdin Elsa Triolet.
Sie lebte in Tahiti, London und Berlin bevor sie sich in Paris mit dem Schriftsteller Louis Aragon niederließ. In den 40er Jahren stand sie vor der Entscheidung, zu emigrieren oder in den Widerstand zu gehen. Sie entschied sich für letzteres. Nach dem Krieg gehörte sie der "Literatur des Widerstandes" an. Sie veröffentlichte Romane, Novellen, Biografien, Essays und arbeitete als Journalistin und Übersetzerin.
Die androgyne Annemarie Schwarzenbach trieb ihre tief empfundene Einsamkeit und Verzweiflung in ferne Länder und die Morphiumsucht. Zeitlebens buhlte sie um die Aufmerksamkeit der von ihr verehrten Erika Mann, die die junge Schriftstellerin kaum beachtete und eher als lästig empfand. Die Weitgereiste starb an den Folgen eines Fahrradunfalls.
Zur Herausgeberin:
Susanne Nadolny ist Übersetzerin und freie Autorin und beschäftigt sich seit einigen Jahren schwerpunktmäßig mit Biografien von Persönlichkeiten aus der deutschen und französischen Literaturgeschichte. Buchveröffentlichungen: Text-Bildbände über Claire Goll und Elsa Triolet.
AVIVA-Tipp: Der ansprechend gestaltete Band Gelebte Sehnsucht stellt das Leben und Wirken von Künstlerinnen vor, die Anfang und Mitte des 20. Jahrhunderts ihre eigenen, teilweise exzentrischen, Lebensentwürfe realisierten. Dabei begegnen der Leserin alte Bekannte, wie zum Beispiel Dorothy Parker und Katherine Mansfield, aber auch Neuentdeckungen wie Nancy Cunard.
Gelebte Sehnsucht
Grenzgängerinnen der Moderne
Herausgegeben von Susanne Nadolny
Edition Ebersbach, August 2005
Kartoniert, Zahlreiche Abbildungen, 207 Seiten
25,00 Euro
ISBN: 393874001990008115&artiId=3588651" target="_blank">bestellen