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Beitrag vom 15.03.2011
Angelika Overath - Alle Farben des Schnees. Senter Tagebuch
Tatjana Zilg
Dort für immer wohnen, wo eine sich im Urlaub am wohlsten fühlt. Davon träumen viele Menschen, die wenigsten setzen diesen Herzenswunsch in die Tat um. Die Autorin zog gemeinsam mit ihrem ...
... Partner Manfred Koch und ihrem jüngsten Sohn Matthias in das Schweizer Bergdorf Sent, wo die Familie zuvor seit über fünfzehn Jahren im Winter Ski fuhr, im Sommer über in den Bergen wanderte.
Dicht neben weißen Gipfeln ist Sent malerisch im Unterengadin gelegen, mitten in einem beliebten Schweizer Urlaubsgebiet. Verständlich, dass die Sehnsucht nach einer Alltagsflucht hier die Gedanken streift. Doch auch Ängste entstehen, welche Nachteile sich durch eine dauerhafte Ferne von den Annehmlichkeiten postmoderner Urbanität ergeben könnten.
Die 1957 in Karlsruhe geborene Angelika Overath hat sich offenbar genau im richtigen Augenblick ihres Lebens für den Schritt entschieden, nicht nur aufs Land, sondern auch fort aus Deutschland zu ziehen. Vom ersten Lesemoment an wird aus ihren Zeilen ersichtlich, wie glücklich und geborgen sie sich an ihrem neuen Wohnort fühlt. Anfänglich als Schwierigkeitspotentiale erachtete Umstände lösen sich schnell auf oder entstehen erst gar nicht. Die beiden älteren Kinder, schon erwachsen, sind gerade ausgezogen, bereisen nach dem Abitur die Welt und haben mit dem Studium begonnen. Der Frage, ob der jüngere Sohn Matthias den Sprung von der früheren Wohnung in der Universitätsstadt Tübingen in die neue Umgebung bewältigen wird, müssen sich die Eltern hingegen stellen. Zu ihrer großen Überraschung findet sich der Grundschüler rasch in die neue Situation ein. Begeistert kehrt er am ersten Schultag zurück, gewinnt zahlreiche Freunde, mit denen er bis zum Sonnenuntergang in den Dorfgassen spielt. Auch die fremde Sprache Vallader, ein alter, nur noch in diesem Kanton gesprochener Dialekt des Rätoromanischen, erlernt er von einem Tag auf den anderen. Sein Vater zieht mit und kann sich ebenfalls im Alltag auf romanisch gut verständigen. Angelika Overath fällt das schwerer, obwohl sie von dem Sprachklang begeistert ist. Sie nimmt Einzelstunden und beginnt mit dem Schreiben von eigenen Gedichten in Vallader, so dass sich die Vokabeln und deren Aussprache sanft in ihre Seele schmiegen.
Während des Lesens der Tagebucheinträge beeindruckt es, mit welcher Leichtigkeit es der ehemaligen Ferienfamilie gelingt, in der Dorfgemeinschaft anerkannt zu werden. Als sie sich für den Kauf eines alten, stark renovierungsbedürftigen Hauses im Dorfkern entscheiden, kommen die beiden Verkäuferinnen ihnen bereitwillig im Preis entgegen und vermitteln einen Kontakt zu einem ortsansässigen Architekten, der den Umbau mit hoher Sorgsamkeit umsetzt. Die gelegentliche Vermietung eines Teils des Hauses an Feriengäste wird fortan auch für sie zu einer Einnahmequelle.
Häufig müssen sie jedoch für ihre Arbeit den neuen Heimatort verlassen, denn beide sind LiteraturwissenschaftlerInnen, DozentInnen, AutorInnen und JournalistInnen. Angelika Overath beschreibt die Zeit in Sent genauso wie die Reisen zu anderen Orten in der Schweiz und in Deutschland bis zu einem Gastlehraufenthalt in Amerika mit feinsinnigem Beobachtungstalent und in einem dezent poetischen Sprachstil. Aus den Momentaufnahmen wird so ein graziles Mosaik, in dem sich die Schönheit der Senter Landschaft, die Lebensart der dortigen BewohnerInnen und das Wechselspiel ihres stetigen Wiederkommens und Fortseins spiegelt.
An vielen Stellen ihres Tagebuchs flicht sie darüber hinaus etliche Hintergrundinformationen ein, die sich direkt aus dem Alltagsgeschehen ergeben, etwa die Prägung des kleinen Ortes durch Migration und Emigration: In der Gegenwart von KünstlerInnen als Wahlheimat und von gestressten StädterInnen als Urlaubsort auserwählt, ging von Sent in der Vergangenheit eine Auswanderungsbewegung aus. Etliche gebürtige SenterInnen versuchten in Italien als ZuckerbäckerInnen ihr Glück und nahmen als Randulins (Schwalben) Einfluss auf die Geschichte. In den Sommermonaten kehrten sie nach Sent zurück und brachten städtischen Chic mit. Von ihren Verdiensten bauten sie italienische Palazzi und eine Baumallee, die bis an die Gemeindegrenze von Scuol, der nächsten Kleinstadt, reicht.
Zur Autorin: Angelika Overath wurde 1957 in Karlsruhe geboren und ist Autorin der Romane "Flughafenfische" und "Nahe Tage". 1996 erhielt sie für ihre Reportage "Bis ins Mark" den Egon-Erwin-Kirsch-Preis, 2008 wurde sie mit dem Schweizer Preis für unabhängigen Journalismus ausgezeichnet.
AVIVA-Tipp: Einfach in die Ferne schweifen und dort bleiben: das klingt verlockend. Wie es funktionieren könnte, wird im "Senter Tagebuch" erfahrbar, weniger durch praktische Handreichungen als durch die Vermittlung eines zuversichtlichen Grundgefühls. Der Fokus verschiebt sich auf ein Leben im Rhythmus der Jahreszeiten und die Freude an den kleinen Dingen des Alltags und den Geschenken der Natur sowie einer entspannten Kommunikation mit NachbarInnen und anderen Gleichgesinnten.
Alle Farben des Schnees
Senter Tagebuch
Angelika Overath
Luchterhand, erschienen Dezember 2010
Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 256 Seiten
ISBN: 978-3-630-87340-4
18,99 Euro