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Beitrag vom 12.09.2010
Marica Bodrožiæ - Das Gedächtnis der Libellen - Lesung am 29.09.2010 in Berlin
Tatjana Zilg
In intensiven Wortwogen verleiht die Autorin einer Liebesbeziehung, die sich jeglicher dauerhaften Bestimmung und alltäglichen Verortung entzieht, eine poetische Gestalt und verzichtet dabei ...
... bewußt auf einen kontinuierlichen Handlungsfaden.
Marica Bodrožiæ, die als Teenager aus Dalmatien (einem Teil des ehemaligen Jugoslawiens) nach Deutschland emigrierte, erwirbt seit 2002 mit ihren autobiographisch durchdrungenen Erzählungen die Aufmerksamkeit des anspruchsvollen Literaturpublikums und der Kritik. Die Erinnerung an das Geburtsland, die Zerrüttung durch den Krieg und das emotionale Pendeln zwischen der verlassenen Heimat und den neu gefundenen Lebensorten (unter anderen Berlin) bildeten in Werken wie "Sterne erben, Sterne färben. Meine Ankunft in Wörtern" (2007), "Tito ist tot" (2002) und "Der Spieler der inneren Stunde" (2005) einige der Bezugspunkte, welche die Wortschöpferin mit großem lyrischen Geschick und Kraft nutzte.
In "Das Gedächtnis der Libellen" stellt die Autorin Nadeshda in den Mittelpunkt, eine Frau, die während einer ruhelosen Liebe zu einem verheirateten Mann ihre Erinnerung an die Kindheit wiederentdeckt und den damals erlebten Schmerzen und Verlusten neu begegnet. Der Emotionsstrudel, durch den sie aufgrund der zukunftslosen Beziehung zu ihrem Liebhaber geht, spiegelt sich hierin auf eine teils surreale, teils psychoanalytisch-poetische Art wider. Ilja wurde wie Nadeshda in Dalmatien geboren und hat sich später durch die Welt treiben lassen, um sich schließlich in Kalifornien niederzulassen, wo er - nach eigener Auskunft "glücklich" - verheiratet ist.
Nadeshda wirkt wie ständig auf der Suche: Nicht nur nach einer langfristig währenden Erfüllung ihrer Liebe zu Ilja, sondern auch nach einer Auflösung uralter Konflikte, nach einem rationalen Verständnis ihrer unvermittelt aufflutenden Kindheitserinnerungen und nach einem endgültigen Ankommen in ihrem jetztigen Lebensort Berlin.
Spiralförmig wird die Leserin/der Leser in die Gedanken, Ausführungen, Reflexionen und Sinnhinterfragungen der Protagonistin hineingezogen und aufgefordert, sich tief auf diese einzulassen. Tut sie/er das nicht, gelingt es kaum, dem Roman zu folgen, da ein konventioneller Handlungsaufbau fehlt. Stattdessen finden sich in dem meisterlich durchdachten Wortmosaik viele Momentaufnahmen, Charakterskizzen und tiefschürende Einblicke in die Begegnung von Nadeshda und Ilja, die oft voll Leidenschaft ist, dann wieder von erschreckender Einseitigkeit und kurz darauf von zum Nachdenken anregenden, universellen Komponenten bestimmt. Ausgangspunkt ist ein lange geplantes Treffen für drei Tage in Amsterdam, dem Nadeshda mit glühender Leidenschaft entgegen fiebert, währenddessen Ilja immer wieder versucht, eine Distanz herzustellen.
Nadeshda schweift in gedanklichen Streifzügen zu der für sie lange mysteriös gebliebenen Figur ihres Vaters, der in ihrer Kindheit aufgrund schwerer Straftaten zusammen mit ihrer Mutter das Land verließ und nie mehr von sich hören ließ. Der erwachsenen Tochter gelingt es nun, seinen grausamen Zügen ins Gesicht zu blicken und sich dem zu stellen, was sein Handeln in ihr bewirkt hat. Langsam erkennt sie dadurch auch ihre inneren Abhängigkeiten, die sie in der übergroßen Liebe zu Ilja aufgebaut hat. Endlich kann sie sich dadurch von ihm lösen und ihr eigenes Dasein im Jetzt erkennen und sich selbst neu bestimmen.
AVIVA-Tipp: "Das Gedächtnis der Libellen" ist alles andere als einfache literarische Kost und kann deshalb nicht nebenbei gelesen werden. Wenn frau sich aber die Zeit nimmt, sich ganz auf den Roman einzulassen, den Sätzen in ihrer Vielschichtigkeit nachzuspüren und in sich hallen zu lassen, dann kann der Roman zu einer Schatzgrube an Inspiration und Anregungen zu Selbst- und Welterkenntnis werden.
Zur Autorin: Marica Bodrožic wurde 1973 in Dalmatien (im heutigen Kroatien), geboren und wuchs bis zu ihrem zehnten Lebensjahr bei ihrem Großvater auf. 1983 zog sie zu ihren Eltern nach Deutschland, die hier bereits seit den 1960er Jahren lebten. Nach einer Buchhändlerinnenlehre machte sie das Abitur auf dem Abendgymnasium und studierte anschließend in Frankfurt am Main Kulturanthropologie, Psychoanalyse und Slawistik. Ihre ersten literarischen Arbeiten (Prosa, Essays und Lyrik) veröffentlichte sie in Zeitungen und Zeitschriften (FAZ, Manuskripte, Lettre Internationale) sowie im Hörfunk. Neben einer Reihe von Preisen, Stipendien und Förderungen erhielt Bodrožic 2007 den Förderpreis Literatur zum Kunstpreis Berlin der Akademie der Künste. 2008 wurde sie mit dem Kulturpreis Deutsche Sprache ausgezeichnet. Marica Bodrožic lebt heute als freie Schriftstellerin und Übersetzerin in Berlin. (Quelle: Verlagsinfo)
Marica Bodrožiæ
Das Gedächtnis der Libellen
Gebundenes Buch, 256 Seiten
Roman
Luchterhand Literaturverlag, erschienen August 2010
München 2010
ISBN 978-3-630-87334-3
19,99 Euro
Veranstaltungshinweis:
Am Mittwoch, den 29.09.2010, liest die Autorin Marica Bodrožiæ
ab 20.00 Uhr in der Autorenbuchhandlung Berlin Fürst & Iven GmbH
Carmerstraße10
10623 Berlin