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Beitrag vom 17.10.2008
Floortje Zwigtman – Ich, Adrian Mayfield
Tatjana Zilg
Mit dem Roman "Wolfsrudel" warf sie ein historisches Licht auf den Dracula-Mythos. Nun entführt die niederländische Autorin in die Welt eines 17jährigen Underclass-Hero, der zu Zeiten der …
… vorletzten Jahrhundertwende in London lebt. Seines 10-Stunden-Arbeitstags als Schneidergehilfe überdrüssig, stolpert er etwas unbeholfen in höhere Kreise. Aber nicht der pure Reichtum ist Gegenstand seiner geheimen Träume. In den Teil der Upperclass, zu den er sich gerne zukünftig zugehörig zählen würde, dreht sich alles um die Kunst.
Oscar Wilde und seinen Roman "Das Bildnis des Dorian Gray" benennen kunstinteressierte Menschen gern, wenn sie sich bei geselligen Ereignissen mit Gleichgesinnten über die schönen und die weniger schönen Dinge des Lebens und des Sterbens austauschen. So manches Mal spielt da der Inhalt wohl nur eine sekundäre Rolle, vielmehr geht es darum, zu zeigen, dass man Ahnung davon hat, was wirklich wichtig ist.
Sich intensiv mit Kunst und Literatur zu beschäftigen ist ein Luxus, für den nicht alle gleichermaßen Zeit haben. Das war zu Zeiten, als die Gewerkschaften noch im Untergrund kämpften, das Arbeitsrecht es noch nicht einmal in die Kinderwiege geschafft hatte und für viele Menschen eben diese Kinderwiege den Verlauf ihres ganzen Lebens massiv bestimmte, noch weitaus deutlich spürbarer.
So auch für den Helden des neuen Romans der Autorin, die für ihre Grusel-Historien-Saga "Wolfsrudel" den belgischen Jugendliteraturpreis erhielt. Auch "Ich, Adrian Mayfield" räumte bereits den Gouden Uil und den niederländischen Literaturpreis ab. Auf jeden Fall gehört die Autorin zu denjenigen LiteratInnen, die zwar oft der Jugend-Sektion zugeordnet werden, aber durch ihren poetischen, detailreich beschreibenden Erzählstil und der Komplexität des Spannungsbogens Erwachsene mindestens ebenso ansprechen.
Adrian, ebenso spitzbübisch wie sensibel, erzählt in der Ich-Perspektive, wie er sich aus dem harten Arbeitstag, der ihn als Kind East-Londons zugedacht war, davonstiehlt und im Atelier eines übergewichtigen, aber eloquenten Malers landet und dort lernt, dass Sex-Dienstleistungen weitaus mehr einbringen als die knochenharte Arbeit in der Schneiderstube seines Ex-Chefs. Er ist aber keiner, den diese Erkenntnis dazu bringt, sich mit einem Schulterzucken als Stricherjunge zu verdingen. Seine Sehnsucht gilt der Kunst und einem besseren Leben in Kreisen kluger und schöner Menschen wie er sie im Cafe Royal am Tisch, zu dem Oscar Wilde persönlich einlädt, erlebt hat. Dies ist aber keineswegs so einfach wie er zunächst dachte. Eine kurze Zeit lang kann er sich sein Geld als Maler-Modell verdienen und lernt so den eher zurückhaltenden Künstler Vincent Farley kennen, der wohlbehütet in der Villa seines neureichen Bruder Stuart, einem Versicherungsgenie, wohnt und arbeitet.
Die Stunden dort, an denen auch die schriftstellerisch begabte Nichte Vincent´s teilnimmt, sind der wahre Mittelpunkt von Adrian´s Leben außerhalb East-Londons. Der "purpurne Hofstaat", wie er die Kreise um Oscar Wilde ironisch-liebevoll benennt, ist in seiner Gunst äußert unstet. Mal wird Adrian umworben, eingeladen, geschätzt, geneckt, ebenso schnell wird er wieder fallen gelassen. Dies steigert sich, als alle, inklusive Vincent, für die Sommermonate in den Süden schweifen, und Adrian weit entfernt davon ist, es sich leisten zu können. So besiegt der Hunger in diesen Monaten seinen inneren Kampf und er verdient sich sein Geld mit Liebesdiensten an Männern der unterschiedlichsten Bevölkerungsschichten. Ohne Zaudern gelingt der Autorin der Spagat, plausibel zu machen, wie Adrian es innerlich als Kränkung erlebt, für seine Hingabe und Lust bezahlt zu werden, aber gleichzeitig sein Coming Out durchwandert und seine sexuelle Aktivität genießt.
Zur Autorin: Floortje Zwigtman, geb. 1974, gilt als eine der herausragendsten und eigenwilligsten jungen Stimmen der niederländischen Jugendliteratur. All ihre Bücher waren nicht nur Presse-, sondern auch Verkaufserfolge, wurden mehrfach ausgezeichnet und kontrovers diskutiert. Sie lebt und arbeitet in Südholland als freie Schriftstellerin und Lektorin. (Quelle: Verlagsinfo)
AVIVA-Tipp: Wesentlicher Kern der Geschichte ist neben dem Zeitmaschineneffekt hinein ins viktorianische London, das Oscar Wilde zu seinen zum Klassiker gewordenen Roman "Das Bildnis des Dorian Gray" inspirierte und in dem Homosexualität unter Strafe stand, das Scheitern von Träumen und der Moment, wenn der Realität gnadenlos ins Gesicht gesehen werden muss. Adrian sieht sich schnell in höheren Kreisen tanzen und lässt sich durch das ambivalente Verhalten der Künstler und der schönen Reichen immer wieder in tiefe Löcher stürzen, bis er seine eigene Position findet, aus der heraus er den Menschen in seinem neuen Umfeld adäquat begegnen kann. Die Suche nach Sich selbst, das Geblendet-Werden von materiellen Dingen, das Böse und das Gute in der Kunst – aus diesen universellen Ingredienzien ließ die preisgekrönte Autorin einen spannenden und reizvollen 500-Seiten-Wälzer entstehen.
Floortje Zwigtman
Ich, Adrian Mayfield
Gerstenberg Verlag, erschienen August 2008
Gebunden, 512 Seiten
ISBN: 9783836952002
Euro 16,90