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AVIVA-BERLIN.de im Dezember 2024 - Beitrag vom 01.03.2009


Maria Cecilia Barbetta - Änderungsschneiderei Los Milagros
Claire Horst

Mit ihrem ersten Roman nimmt die Autorin Bezug auf die lateinamerikanische Tradition des epischen Erzählens und verknüpft dabei, wie beispielsweise Isabel Allende, mehrere Erzählstränge ...




... zu einem verwobenen Netz.

Im Mittelpunkt von Barbettas Roman stehen zwei junge Frauen, die sich durch einen Zufall kennen lernen und einige Gemeinsamkeiten haben. Eine von ihnen, Mariana Nalo, arbeitet in der titelgebenden Schneiderei. Eines Tages erscheint dort Analía Morán, um das Hochzeitskleid ihrer Mutter für die eigene Hochzeit ändern zu lassen.

Marianas Begeisterung für Insekten führt zu einer ungewöhnlichen Sicht auf die Welt und ihre BewohnerInnen. Die Ehebrüche ihres Vaters sieht sie zum Beispiel als normales Verhalten einer Kreuzspinne: "Die Paarung beginnt im August. Die Männchen spinnen einen Bewerbungsfaden und zupfen daran. Das Weibchen erkennt das Männchen am Zupfen, dabei bedient es sich so genannter Hörhaare an den Beinen." Damit wird die Welt der Insekten zu einem der Leitmotive des Romans.

Analía ist von der Überfülle der Stoffe sehr beeindruckt, die ihr in der Schneiderei präsentiert werden - eine Überwältigung, die sich auf die Leserin überträgt. In langen, verschnörkelten Sätzen beschreibt Barbetta die Vielfalt von Stoffen, das bunte und detailreiche Angebot an Stoffmustern, Werkzeugen, Knöpfen jeder Form und Farbe. In diesem Stoffreichtum scheint die Leserin beinahe zu versinken. Dieser Hauptschauplatz der Handlung mit seiner unglaublichen Materialfülle wird zum Sinnbild für die Erzähltechnik des gesamten Romans.

Wie Analía, die von der bevorstehenden Hochzeit schwärmt, ist auch Mariana verliebt. In Bezug auf ihre Männerbekanntschaften ähneln sich die beiden Frauen, denn sie sind in ihren den Augen mysteriöse, bewundernswerte Figuren. Doch Analías Bräutigam existiert für die Leserin nur in ihren Erzählungen, niemals taucht er selbst auf. Marianas Gerardo setzt sich in die USA ab – ihr Drängen zur Verlobung ist ihm zu viel geworden. Von ihm bleiben nur drei Postkarten, die als Einschub im Roman erscheinen.

Diese Einschübe machen einen wichtigen Teil des Romans aus. Passend zu Titel und Schauplatz endet jedes Kapitel mit der Abbildung eines Schnittmusters, das die Motive des vorangegangenen Kapitels aufgreift. Darunter sind Text-Versatzstücke, Filmstills, Zeitungsreklamen, Fahrscheine, Abbildungen von surrealistischen Kunstwerken und vieles andere – wodurch ein neues Bild des Textes entsteht.

Durch die Kombination von Text und Bildern entsteht ein kunstvolles Gewebe, ähnlich einem Spinnennetz., das einmal mehr Insekten als Thematik unterstreicht. Ein weiteres Motiv ist Alice im Wunderland. Mehrere Stoffmuster, Metaphern und Liedtexte im Buch beziehen sich auf diese Figur, und natürlich lassen sich beide Stränge über die rauchende Raupe - zudem eine Figur bei Alice im Wunderland - wunderbar verbinden.

Generell steht bei diesem Roman nicht die Handlung im Vordergrund, sondern Barbetta bezieht sich auf vielfältige Einflüsse und zitiert die Weltliteratur von Lewis Carroll über Homer bis zur amerikanischen Comicliteratur, und nebenbei lässt sie ihre Heldinnen über Quantenphysik, Mathematik, Katholizismus und Philosophie sinnieren. Die spinnwebartigen Handlungsfäden werden am Schluss zwar zusammengeführt, lassen aber sehr unterschiedliche Lesarten zu. Handelt es sich etwa bei beiden Frauen um ein und dieselbe? Oder handelt es sich bei den zwei Männern auch nur um eine Person?

Weiterlesen von weiteren Chamisso-Preisträgerinnen:
Emine Sevgi Özdamar "Die Brücke vom Goldenen Horn" und Libuse Monikova "Pavane für eine verstorbene Infantin"

Zur Autorin: María Cecilia Barbetta wurde in Buenos Aires geboren und studierte dort Deutsch als Fremdsprache. Sie kam mit einem Stipendium des DAAD nach Deutschland und lebt seit 1996 hier. Für "Änderungsschneiderei Los Milagros" hat sie den Aspekte-Literaturpreis 2008 und den Förderpreis des Adelbert von Chamisso-Preises erhalten.

AVIVA-Tipp: Barbettas wilde Sprachlust und die unzähligen Metaphern, Fäden, Bilder, die in alle möglichen Richtungen führen, können begeistern oder auch ermüden. Teilweise wirkt dieser Überfluss etwas manieriert. Trotzdem: Allein schon die liebevolle Ausstattung des Buches weckt Leselust. Barbetta zeigt sich als einfallsreiche Autorin mit Freude am Experimentieren.

María Cecilia Barbetta
Änderungsschneiderei Los Milagros

Verlag: S. Fischer Verlag, Juli 2008
Hardcover, 336 Seiten
ISBN: 978-3100042101


Literatur

Beitrag vom 01.03.2009

Claire Horst