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Beitrag vom 09.01.2012
Elizabeth Taylor - Blick auf den Hafen
Lisa Scheibner
In poetischer Nüchternheit beschreibt die englische Autorin, die zu Lebzeiten wie posthum kaum Bekanntheit erlangte, die kleinen Dramen eines verschlafenen Hafenstädtchens so spannend,..
...dass es Mühe macht, das Buch aus der Hand zu legen.
Newby scheint auf den ersten Blick ein ereignisloser Ort an der englischen Küste zu sein. Es hat einen Krieg gegeben (wir befinden uns wahrscheinlich in den mittleren bis späteren 1940er Jahren), doch darüber wird kaum gesprochen. Einzig ein paar Rollen Stacheldraht am Strand, in denen sich von Wind davongetragene Gegenstände verfangen, zeugen davon. Wer hier wohnt, beobachtet mehr, als darüber zu reden, was es zu sehen gibt. Selbst der Leuchtturm, der allabendlich seinen Strahl in die Fenster wirft, scheint auf seine Art Alles zu observieren.
"Lily Wilson saß mit `Lady Audley`s Geheimnis` auf dem Schoß hinter ihren Spitzengardinen, doch es war zu dunkel zum Lesen. Obwohl sie darauf wartete, kam der erste Lichtstrahl des Leuchtturms jedes Mal überraschend und verwandelte den Moment in etwas Magisches und Wunderbares, wenn er mit all seiner Herablassung und Gleichgültigkeit über den taufarbenen Abend strich, halb wiederkehrte, sich zurückzog und dann, schon fast vergessen, seinen Fächer über das Wasser breitete, den ganzen Sommer über von verwirrten Vögeln und Faltern durchschwirrt (...)"
Elizabeth Taylor (1912-1975) beschreibt in "Blick auf den Hafen", erstmals 1947 unter dem Titel "A View of the Harbour" erschienen, das Alltagsleben der unscheinbaren Kleinstadt. In der Tradition des britischen Gesellschaftsromans, in der sich vor allem Schriftstellerinnen wie Jane Austen und George Eliot einen Namen gemacht haben, entwickelt sie komplexe Psychologien, in die die Leserin nach und nach eintaucht.
Hinter der Gardine ist der beste Platz um zu sehen, wer sich am Kai herumtreibt
Alles beginnt mit Bertram, der neu in die Stadt kommt, und durch dessen Augen die Leserin die BewohnerInnen Newbys kennenlernt. Der alte Seemann sucht einen Platz zum Nachdenken, Zeichnen und vielleicht auch, um sich zum ersten Mal im Leben niederzulassen. Er ist neugierig und versucht, mit allen, die sich an der Promenade zeigen, Bekanntschaft zu schließen - manche einsame Dame blüht unter seinem Interesse geradezu auf.
Den Alteingesessenen entgeht das Treiben des Neulings nicht: sie beobachten genauestens die Freundschaft, die er mit der kürzlich verwitweten Mrs Wilson knüpft, und auch, wie er diese kurz darauf für die Gesellschaft der attraktiven Tory Foyle vernachlässigt.
Die Erzählperspektive springt mit einem Blick aus dem Fenster von Einem zur Anderen und die Orte, an denen sich die Handlung immer weiter entspinnt, sind der Leserin bald vertraut, wie etwa der Anchor, der einzige Pub im alten Teil der Stadt.
Die Einzige, die fast nichts mitbekommt, ist die Schriftstellerin Beth. Sie geht so sehr in ihrem Schreiben auf, dass sie weder bemerkt, was ihre Töchter Prudence und Stevie tun, noch, dass ihr Mann, der Arzt des Ortes, sie mit ihrer besten Freundin betrügt...
Die Erzählung konzentriert sich alsbald auf einige ProtagonistInnen. Elizabeth Taylor beschreibt ihre Charaktere mit liebevoller Präzision, wie etwa die missgelaunte Mrs Bracey, die von der Hüfte abwärts gelähmt in ihrem Zimmer sitzt und ihre Töchter tyrannisiert, obwohl diese ihr heimlich leid tun. Maisie und Iris haben sich trotz ihrer Jugend schon fast von ihren Träumen verabschiedet. Auch die 20jährige Prudence wirkt einsam und scheint sich nur in Gesellschaft ihrer Katzen wohl zu fühlen.
"Jetzt, etwas später, lag sie nackt im Bett, wie sie es gern hatte, mit einer Katze an jeder Seite. Seidiges Fell an ihrer Haut. Kalte, gepolsterte Pfoten auf ihrem Körper. Es bedrückte sie, ihre Eltern plötzlich als menschliche Wesen zu sehen, aus einem Blickwinkel, der ihr vorher gar nicht vorstellbar gewesen war. (...) Sie war nicht darauf vorbereitet, Mitgefühl mit ihrer Mutter zu haben, die sie immer eher abgelehnt, oder ihren Vater abzulehnen, den sie immer geliebt hatte. (...) Behutsam hob sie die Krallen der Katzen von ihrem bloßen Hüften und sie wühlten sich durch das Bettzeug nach oben, bis sie mit ihren kalten Nasen an ihren Hals stießen."
Verstaubte Meuchelmörder
Die Fischerflotte fährt aufs Meer und kommt zurück, die Möwen kreischen, Pläne werden geschmiedet, Briefe geschrieben und ab und zu fährt sogar jemand nach London. Dorthin ist es nicht wirklich weit, und doch scheint die große Stadt mit ihrem Trubel unendlich fern zu sein. Die Zeit in Newby ist stehen geblieben wie in Mrs Wilsons verstaubtem Wachsfigurenkabinett, in dem längst vergessene Mörder aus ihren Glasaugen die wenigen TouristInnen anstieren, die sich dorthin verirren.
Doch die kleinen Geheimnisse machen geradezu süchtig: Gelingt es der zurückgezogenen Maisie, mit dem draufgängerischen Fischer anzubändeln? Wird Tory in ihrer Launenhaftigkeit Beth ihren unverzeihlichen Betrug beichten? Und malt Bertram am Ende das Bild vom Hafen, das er dem Wirt des Anchor versprochen hat?
Ein poetischer Hafengeschichten-Reigen aus einer anderen Zeit, bei der es im Endeffekt nicht die Ereignisse sind, die die Spannung erzeugen, sondern Taylors außergewöhnliche Art des Erzählens, mit der sie subtil und fast modern die Werte und Schwierigkeiten der unmittelbaren Nachkriegsgeneration dargestellt.
Bettina Abarbanells Neuübersetzung offenbart Taylors feine Ironie und sprachliche Gewandtheit, die sich sehr unterhaltsam und überraschend zeitlos entfaltet.
Zur Autorin: Elizabeth Taylor, geborene Coles, wurde 1912 im englischen Reading geboren, zwanzig Jahre vor ihrer berühmten Namensvetterin, und starb 1975 in Penn. Coles arbeitete bis zu ihrer Heirat als Hauslehrerin und Bibliothekarin, danach veröffentlichte sie zwölf Romane, mehrere Kurzgeschichtenbände und ein Kinderbuch. Die Schriftstellerin war kurzzeitig Mitglied der KP, später Anhängerin der Labour Party. "Blick auf den Hafen" (1947) erschien erstmals 1950 unter dem Titel "Kleiner Wellenschlag" auf deutsch, auch zwei andere ihrer Werke wurden ins Deutsche übersetzt. 2007 verfilmte François Ozon ihren Roman "Angel".
Zur Übersetzerin: Bettina Abarbanell, 1961 geboren, arbeitet als Literaturübersetzerin in Potsdam. Sie übersetzte unter anderem Jonathan Franzens "Die Korrekturen", die meisten Werke von Denis Johnson und "Der große Gatsby" von F. Scott Fitzgerald.
AVIVA-Tipp: Elizabeth Taylors Roman ist ein besonderer Lesegenuss für dunkle Winternachmittage und auch über sechzig Jahre nach seinem Erscheinen voller interessanter Beobachtungen aus dem Leben eines scheinbar verträumten Hafenstädtchens im England der 1940er Jahre. Die leidenschaftliche Tory, die Schriftstellerin Beth und die einsame Prudence wissen mehr, als sie sagen. Poetisch, präzise und mit feinem Humor beschreibt die Autorin alltägliche Dramen so spannend und lebendig, dass es eine Freude ist.
Elizabeth Taylor - Blick auf den Hafen
(Im Original: "A View of the Harbour")
Aus dem Englischen von Bettina Abarbanell
Dörlemann, erschienen 2011
Gebunden in Leinen mit Leseband, 384 Seiten
23.90 Euro
ISBN 9783908777663
www.doerlemann.com
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