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Beitrag vom 18.02.2012
Marie Hermanson - Das englische Puppenhaus
Nana Nkrumah
Eine unglückliche Ehefrau erwacht als Spielfigur in einem Puppenhaus. Ein krankes Kind verschwindet im Guckkasten eines Museums. Hermansons Figuren schlüpfen durch ein "Loch in der Wirklichkeit".
"Es gibt ein Loch in der Wirklichkeit" offenbart das märchenhafte Fräulein Columbi ihrer Schülerin, dem neugierigen Mädchen, das sie täglich in ihrer verzauberten Wohnung besucht. Sie malen wunderschöne Bilder, die nur einige Sekunden sichtbar sind und dann verblassen, sie musizieren ohne Notenkenntnis virtuos auf dem Klavier oder spielen imaginäre Brettspiele. Wie man die Grenze zwischen Realem und Phantastischem überwindet, will die große Frau mit dem lila Federhut ihrer Schülerin beibringen. Und eines Morgens findet das Mädchen schließlich dieses "Loch" und fliegt unbemerkt durch das Fenster davon.
Marie Hermanson schildert Situationen, in denen Menschen das Phantastische im Alltag begegnet. Hermansons schlichter, realistischer Schreibstil, der an die journalistische Reportage erinnert, trifft auf einen märchenhaften Inhalt, wodurch ein spannender Kontrast entsteht. Ob die Situationen wirklich geschehen oder von den Figuren nur imaginiert werden, bleibt an vielen Stellen offen. Durch Detailbeschreibungen, innovative Metaphern und bildstarke Vergleiche wird die Fantasie der LeserInnen angeregt. Wie Traumsequenzen entfalten sich die Szenen bei der Lektüre vor dem geistigen Auge.
Die titelgebende Erzählung "Das englische Puppenhaus" ist geschickt konstruiert und spielt neben dem Verwischen der Grenzen zwischen Wirklichkeit und Fantasie auch mit den Grenzen zwischen Leben und Tod, belebter und unbelebter Welt. Die an Depressionen und Schlafstörungen leidende Ich-Erzählerin denkt an Suizid und findet sich plötzlich als Spielfigur ihres englischen Puppenhauses wieder – ein SammlerInnenstück, das sie vor einiger Zeit im Londoner Antiquitätenhandel erworben hat. Dort beginnt sie ein neues Leben als Verlobte des Puppenherren Mr. Black. Währenddessen verliebt sich Miss White, die treue Bedienstete im Puppenhaus, in den großen blonden Mann, den sie vom Fenster aus sehen kann. Es ist Torsten - der einsame, zurückgelassene Ehemann der Ich-Erzählerin. Mit seiner Riesenhand greift er manchmal in das Haus und holt die Spielfigur Miss White zu sich. Eines Tages stürzt sich diese sehnsuchtsvoll aus dem Fenster, um mit Torsten ein neues Leben im großen Wohnzimmer zu beginnen.
Der Band "Das englische Puppenhaus" ist eine neu zusammengestellte Sammlung von neun Erzählungen, die Marie Hermanson zwischen 1983 und 2009 im schwedischen Original und deutscher Übersetzung veröffentlicht hat. Neben der europäischen Märchenwelt finden sich darin Elemente der angelsächsischen Fantasytradition wieder. Die Kombination zwischen Realismus und Phantastischem macht die Erzählungen besonders spannend, da die LeserInnen nie wissen, wann sich das "Loch in der Wirklichkeit" auftut und was dann geschieht.
AVIVA-Tipp: Die Erzählungen von Marie Hermanson sind bildstark, überraschend und unterhaltsam, regen durch ihre oft melancholischen Töne aber auch zum Nachdenken an. Besonders abwechslungsreich sind sie durch die häufigen Wechsel in der Perspektive, denn die Hauptfiguren sind mal männlich, mal weiblich, mal Kinder oder Erwachsene.
Zur Autorin: Marie Hermanson, geboren 1956 im westschwedischen Sävedalen, am Rande von Göteborg, besuchte die Journalistenhochschule, studierte Literaturwissenschaft und Soziologie in Göteborg, wo sie heute noch lebt und arbeitete als Journalistin bei verschiedenen Tageszeitungen. 1986 debütierte sie mit dem Erzählband "Es gibt ein Loch in der Wirklichkeit". Ihr neuester Roman "Himmelstal" wird in Deutschland im März 2012 bei Suhrkamp/Insel veröffentlicht. Weitere Infos unter: www.mariehermanson.se (Quelle: Website der Autorin)
Marie Hermanson
Das englische Puppenhaus - Erzählungen
Taschenbuch, 158 Seiten
Suhrkamp Verlag, erschienen Juni 2011
978-3518462706
8,95 Euro
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