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Beitrag vom 22.08.2008
Andrea Diefenbach - AIDS in Odessa
Franziska Nixdorf
Die Fotoreportage über die stark unterschätzte Aids-Epidemie in der Ukraine öffnet den BetrachterInnen auf erschütternde und gleichzeitig von stiller Traurigkeit gekennzeichnete Weise die Augen.
1987 wurde die erste HIV-Infizierung in der Ukraine öffentlich. Seitdem war die Ausbreitung des Immundefektsyndroms auf Grund fehlender Prävention und Aufklärung im Lande unaufhaltsam. Heute zählt die Ukraine nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation WHO zu dem Staat Europas mit den meisten Neuinfektionen und weltweit zu dem Land mit der schnellsten Verbreitung des Virus.
Insbesondere die Einmillionenhafenstadt Odessa im Süden des Landes führt mit 160.000 Infizierten die traurige Liste der betroffenen Städte an.
Die engagierte Fotografin Andrea Diefenbach begleitete im Frühjahr 2006 HIV-positive Männer und Frauen in Odessa. Ihre Begegnungen und Erkenntnisse dokumentierte sie in der vorliegenden, bewegenden Fotoreportage.
Die Fotografien und bildbegleitenden Texte zeigen den Schmerz und das Leid der Menschen, die sich meist über die Benutzung verschmutzter beziehungsweise von HIV-Infizierten verwendeter Drogenspritzen mit der tödlichen Krankheit ansteckten. Ebenso verbildlicht Andrea Diefenbach das Schicksal von Paaren, in denen eine/r den anderen unbewusst mit dem Virus infizierte. Die Geschichte einer Krankenschwester, die an dem Virus beim Blutabnehmen eines Drogensüchtigen erkrankte, hinterlässt zusätzlich ihre zutiefst bedrückende Wirkung.
Trotz einiger Gemeinsamkeiten sind die Schicksale der dargestellten Personen so individuell wie jedes einzelne Gesicht auf den Fotografien. Dies bedeutet aber nicht, dass eines mehr oder weniger schockierend als das andere ist. Mit großem Einfühlvermögen und Gespür für jedes Detail gelang Andrea Diefenbach eine tiefgründige und emotional ergreifende Betrachtungsweise der Reichweite der Aids-Erkrankung in einem Land, das unmittelbar in unserer Nähe liegt.
Dabei erschuf sie eine Bildatmosphäre, in der die Portaitierten nicht zu bemerken schienen, dass sie fotografiert wurden. Die Aufnahmen zeigen Ausschnitte aus dem Alltag der Menschen, ohne dass diese der Kamera ihre Aufmerksamkeit schenkten. Den BetrachterInnen wird das Gefühl übermittelt, an dem Leben der Porträtierten teilzuhaben, die während des Schlafens, Essens, Zusammenseins mit der Familie und sogar beim Sterben dargestellt wurden. "AIDS in Odessa" ist eine intime Reportage, in der die Fotografin trotz geringer Distanzwahrung zu den Erkrankten vollständig in den Hintergrund tritt.
Das Einfangen solch erschütternder und leidvoller Augenblicke im Leben der Infizierten, welches zu diesem Zeitpunkt bereits hinter ihnen liegt oder vielleicht bald liegen wird, zeugt von einem großen Talent des Mitfühlens und Anteilnehmens.
Zur Autorin/Fotografin: Andrea Diefenbach , geboren 1974 in Wiesbaden. Nach einer dreijährigen Ausbildung zur Fotografin arbeitete sie als freiberufliche Fotografin und Fotoassistentin. Im Jahre 2000 nahm sie das Fotografie-Studium an der Fachhochschule Bielefeld auf, welches sie 2006 erfolgreich abschloss. Im folgenden Jahr gewann sie den "Wüstenrot Dokumentarfotografie Förderpreis", für den sie an einer Fotoreportage in Moldawien arbeitete. 2008 erhielt Andrea Diefenbach ein Stipendium des Fotografie Forums Frankfurt für die Reise und Beteiligung am Houston Fotofest 2008.
Veröffentlichungen: 2005 erschien ihr Buch "Atemwege, Leben mit Mukoviszidose". 2006 folgte das Buch "Jüdisches", Bildreportagen von FotografiestudentInnen der Fachhochschule Bielefeld. Weitere Informationen und Fotografien der Künstlerin finden Sie unter:
www.andreadiefenbach.com.
AVIVA-Tipp: Andrea Diefenbach gelang mit ihrer Fotoreportage ein kunstvolles Abbild der Aids-Zustände in Odessa. In ihren Portraits zeigt sie Schock, Leid und Trauer der Betroffenen und deren Familien und trifft damit den Nagel der Zeit, in welcher die Immunerkrankung immer noch zu den Tabu-Themen der ukrainischen Gesellschaft zählt und selbst in unserer westlichen Welt durch einen lückenhaften Wissensstand gekennzeichnet ist. Die Fotografin zeigt, wie auch schon in früheren Werken, tiefe Empathie. In jedem einzelnen Bild ist ihr Mitgefühl spürbar. "Aids in Odessa" ist gleichzeitig ein sehr informatives Werk über die HIV-Infizierung und das Leben mit Aids, dem neben dem künstlerischen auch ein großer aufklärender Wert zugesprochen werden sollte.
Andrea Diefenbach
AIDS in Odessa
Vorwort von Boris Mikhailov, Text von Andrea Diefenbach
Deutsch/Englisch
Hatje Cantz Verlag, erschienen Juni 2008
192 Seiten, 100 farbige Abb., 17,50 x 23,00 cm, gebunden
ISBN 978-3-7757-2158-5
Preis: 29,80 Euro