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AVIVA-BERLIN.de im April 2024 - Beitrag vom 10.03.2011


Hiromi Kawakami und Jiro Taniguchi – Der Himmel ist blau, die Erde ist weiß, Band 1
Anna Hohle

Der Manga-Zeichner übersetzt die poetische Erzählung der japanischen Bestsellerautorin in zarte und malerische Bilder und beweist dabei von neuem, dass eine berührende Geschichte weder viele Worte...




... noch eine lebhafte Handlung verlangt.

Die Übertragung von bekannten literarischen Werken in das Medium Comic ist für Jiro Taniguchi kein Neuland: Bereits 1993 verarbeitete er Kurzgeschichten des japanischen Autors Ryuichiro Utsumi im Manga "Von der Natur des Menschen". Wie dieser lebt auch seine Adaption von Kawakamis Erzählung ganz von der Intensität des Unausgesprochenen. In der ausdrucksstarken Mimik der Figuren und verträumten Naturimpressionen transportiert der Autor die zerbrechliche Magie des Augenblicks.

Die zarte Liebesgeschichte der Autorin Kawakami beschreibt die Begegnung zwischen einer verschlossenen Mitdreißigerin und ihrem ehemaligen Lehrer in der Anonymität der Großstadt.
Die 37jährige Tsukiko hat sich in ihrem zurückgezogenen Angestelltendasein weitgehend eingerichtet. Tiefergehende soziale Kontakte vermeidet sie, empfindet die selbstgewählte Isolation jedoch nicht als Mangel. Vielmehr genießt sie die kleinen Alltagsfreuden eines guten Essens und den regelmäßigen "Absacker" zum Feierabend. Bei einer dieser Gelegenheiten kommt es zur Begegnung mit ihrem ehemaligen "Sensei" (jap. "Lehrer"), der wie sie das Alleinsein und die Distanz zu anderen Menschen schätzt. In der Folge treffen beide sich immer wieder – teils beabsichtigt, häufig zufällig – und es entspinnt sich ein zartes Band der Sympathie zwischen ihnen.

Kawakamis Erzählung weist weder eine ereignisreiche Handlung noch die klassischen Zutaten einer leidenschaftlichen Liebesgeschichte auf. Sie besticht vorrangig durch das präzise Erfassen von Stimmungen und eine große Sachlichkeit der Sprache. In diesem Sinne erinnern sowohl der reduzierte Ausdruck als auch der starke Akzent auf der Innerlichkeit der Protagonistin an die japanische Tradition des Shishōsetsu ("Ich-Roman") und den allgegenwärtigen Realismus in der japanischen Gegenwartsliteratur. Die Verfassung der Figuren wird dabei nur zu einem geringen Teil direkt benannt. Sie manifestiert sich oftmals im Atmosphärischen und einer präsenten Naturmetaphorik. Ein banales Gespräch über Mineralwassersorten bekommt so durch die direkt anschließende Wendung "Der Mond stand hoch am Himmel. Er war von einem leichten Wolkenschleier überzogen" einen beinahe existentiellen Gehalt.

Taniguchi nun gelingt es, das diffuse Zwischen-den-Wörtern in Bilder zu übersetzen. Angelehnt an die Stilmittel der literarischen Vorlage arbeitet auch der Zeichner vorrangig mit Natur-Imagos. Die Detailfülle seiner Landschaften und Stadtansichten ist beinahe fotorealistisch zu nennen, dennoch schwebt auch über seinen Darstellungen stets der Hauch des Unergründlichen. Neben den allegorischen Naturbildern transportiert Taniguchi die Atmosphäre der Erzählung vornehmlich durch Blicke: In Blicken und Gesten entfaltet sich die wachsende Nähe zwischen Tsukiko und Harutsuna, die trotz aller Unterschiede in Alter und Sozialisation eine Art geistiger Verwandtschaft verspüren.

Die Verbundenheit der beiden Einsamen entsteht vorrangig aus einer übereinstimmenden Vorstellung von der angemessenen Distanz zwischen zwei Menschen. Ihre zaghafte Freundschaft baut auf unausgesprochenen Regeln auf, pendelt zwischen Distanz und Nähe – und erweist sich als so fragil, dass allein das regelwidrige Einschenken eines Glases Sake sie empfindlich stören kann. Letztendlich muss sich Tsukiko die Frage stellen, was stärker wiegt: Ihr Wunsch nach absoluter Autonomie oder die Sehnsucht nach einer verwandten Seele.

Wie Kawakamis Erzählung verhandelt auch Taniguchis Comic-Adaption grundsätzliche Fragen zur Einsamkeit des Individuums in der Großstadt und in der Welt, zu Isolation und Rückzug – und zur Liebe, die einem unverhofft begegnen kann, auch wenn man sie nicht mehr erwartet.

AVIVA-Tipp: In stillen Momentaufnahmen setzt Taniguchi Kawakamis zarte Liebesgeschichte um. Das Medium Comic erweist sich dabei als ideales Mittel, um das Transzendente und Unergründliche der Erzählung zu transportieren. Die Stimmung der Figuren offenbart sich gleichnishaft im Zustand des Mondes oder im Lichtspiel der Blätter eines Baumes. Scheinbare Alltäglichkeiten wie das Gespräch über die richtige Garzeit einer Lotuswurzel gewinnen durch die tiefgründige Darstellung eine Eindringlichkeit, die die LeserInnen beständig in Atem hält – stärker, als es manch actionreiche Handlung vermag. Taniguchi überträgt Kawakamis poetische Vorlage in eindrückliche Bilder und erweist sich dabei einmal mehr als Meister des Atmosphärischen.

Der zweite Teil des Comic erscheint voraussichtlich im Juni 2011

Zu den AutorInnen:

Hiromi Kawakami
wurde 1958 in Tokio geboren Sie studierte Naturwissenschaften und unterrichtete Biologie, bevor 1994 ihr erster Roman erschien. Ihre Bücher wurden mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet. Der Himmel ist blau, die Erde ist weiß erhielt den renommierten Tanizaki-Preis und wurde verfilmt. In deutscher Übersetzung liegen daneben ihr Roman "Herr Nakano und die Frauen" sowie die Erzählung "Am Meer ist es wärmer" vor. Hiromi Kawakami zählt aktuell zu den populärsten SchriftstellerInnen Japans.
(Quelle: dtv-Verlagsinformation)

Jiro Taniguchi wurde 1947 in Tottori, Japan, geboren. Seine Karriere als Comic-Zeichner startete er in den 1970er Jahren. Für seine Serie Botchan no Jidai Kara, einem Werk über das intellektuelle Leben in Japan gegen Ende des 19. Jahrhunderts, wurde er 1998 mit dem Osamu-Tezuka-Culture-Award ausgezeichnet. Neben Genre-Arbeiten begann Taniguchi in den 1990-er Jahren mit der Erstellung von sehr persönlichen Schilderungen alltäglicher anmutender Ereignisse. So entstand neben "Träume vom Glück", einer einfühlsamen Schilderung vom Sterben eines Haustieres, die Kurzgeschichtensammlung "Der spazierende Mann". Es folgten "Die Sicht der Dinge" und der Band Vertraute Fremde, für den er auf dem internationalen Comicfestival in Angoulême 2003 als bester Szenarist ausgezeichnet wurde und der in Deutschland die Auszeichnung "Comic des Jahres 2007" sowie 2008 auf dem Comic-Salon Erlangen den Max-und-Moritz-Preis als "Bester Manga" erhielt. Jiro Taniguchi gilt heute weltweit als einer der renommiertesten Manga-Zeichner.
(Quelle: Carlsen Verlag)
Weitere Infos unter:www.jiro-taniguchi-fan.com


Hiromi Kawakami und Jiro Taniguchi
Der Himmel ist blau, die Erde ist weiß, Band 1

Carlsen Verlag, erschienen Februar 2011
Klappbroschur, 208 Seiten
ISBN 978-3551754479
14,90 Euro
www.carlsen.de


Hiromi Kawakami
Der Himmel ist blau, die Erde ist weiß

Eine Liebesgeschichte
Deutscher Taschenbuch Verlag, erschienen März 2010
Softcover, 186 Seiten
ISBN 978-3423138574
8,90 Euro
www.dtv.de

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Beitrag vom 10.03.2011

AVIVA-Redaktion