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Beitrag vom 28.02.2011
Adriana Altaras - Titos Brille. Der Roman und das Hörbuch, gelesen von der Autorin
Claire Horst
Die Geschichte ihrer "strapaziösen Familie" will die Schauspielerin und Regisseurin in ihrem ersten Roman erzählen. Strapaziert werden zum Glück nur die Nerven der Autorin, der unbeteiligten ...
... Leserin erscheinen die Erlebnisse der Autorin mindestens so amüsant wie irrwitzig.
Als ihre Eltern sterben, steht Adriana Altaras vor einer endlos scheinenden Hinterlassenschaft. Briefe und Fotos, Dokumente und Möbelstücke soll sie aussortieren und stößt dabei nicht nur auf bislang unbekannte Geschwister, sondern auch auf Nachweise für den beschämenden Kampf ihrer jüdischen Eltern um Entschädigung.
Im italienisch besetzten Teil Jugoslawiens gelang es ihnen nicht nur, die Judenvernichtung zu überleben, sondern der Familienlegende zufolge hat der Vater auch vierzig jüdische Kinder gerettet und später Titos Brille repariert. Weder Belohnung noch Entschädigung haben die Eltern jemals erhalten. Diese Geschichte könnte voller Wut und Hass erzählt werden. Altaras dagegen erzählt sie mit sarkastischem Witz, mit einem Humor, den die größten Absurditäten ihr nicht nehmen können. Dass die Toten mit ihr sprechen und sich ständig in ihr Leben einmischen, nimmt sie sportlich, selbst wenn es sich keineswegs nur um nahestehende Tote handelt. Tanten, Onkel, die gesamte weit verstreute Verwandtschaft gibt Ratschläge, macht Vorwürfe, ruft Erinnerungen hoch – aus einem Jenseits, an das Altaras nicht einmal wirklich glaubt.
Dass Altaras nichts schrecken kann, zeigt auch der Wettstreit mit ihrem besten Freund Raffi. Denn der versucht sein Liebesglück ausschließlich mit jüdischen Frauen, während Altaras mit einem blonden, nicht jüdischen Westfalen verheiratet ist. Selbst die wehmütigen Erinnerungen ihrer "arischen" Schwiegermutter an die BDM-Zeit erträgt sie mit leiser Verzweiflung. "Da gab es plötzlich so viel Platz in den Schwimmbädern, den Juden war es doch jetzt verboten zu baden, uns aber nicht...", erzählt diese dann oder "Mein Vater ist nie in die Partei eingetreten – sondern war sehr musikalisch."
Dass das Leben immer noch absurder ist als befürchtet, beweist schon eine der frühesten Erinnerungen der Autorin. Schon mit drei Jahren spielte sie in einem Film über die heldenhaften Partisanen Jugoslawiens ein jüdisches Mädchen. Noch bevor der Film abgedreht war, befand sich die Familie nach einem Schauprozess gegen den Vater auf der Flucht. Aufgewachsen bei der Tante in Italien und im deutschen Internat, wurde Altaras schon in jungen Jahren für alle Eventualitäten gewappnet.
Und verkraftet deshalb auch die Stauballergie, die sie den "deutschen Herrenmenschen" zu verdanken hat. "Ich spielte die Türkin, die Serbin, die Kroatin, die Griechin, die Russin, die Sizilianerin – wen auch immer. Fast immer putzte ich. Ich putzte derart viel im deutschen Fernsehen, dass ich inzwischen eine fette Stauballergie habe, die unheilbar scheint." Nachdem sie sich mit einem selbstverfassten Stück als Jüdin "outet", wird ihr eine neue Zuständigkeit angetragen: "Mit Biolek erörterte ich den Zionismus und Ben Gurions Kochkünste, bei Frau Christiansen durfte ich mit dem israelischen Botschafter und dem deutschen Innenminister über Normalität in Israel sprechen."
Irgendwie gelingt es Altaras, vom Tod ihrer Eltern, der gescheiterten Vergangenheitsbewältigung der Deutschen, von der Internierung ihrer Mutter im Lager Rab zu berichten, ohne ihren Humor zu verlieren. Von der Bar-Mizwa ihres Sohnes, die zu Auseinandersetzungen mit orthodoxer Frauenfeindlichkeit und dem Wunsch Buddhistin zu werden führt, über die Einlösung der Goldzähne ihrer Mutter, von der Psychotherapie für Nachkommen Überlebender bis zur schwierigen Erbregelung mit der Halbschwester aus Zagreb verknüpft Altaras Erinnerungen, die nur scheinbar nichts miteinander zu tun haben.
Gleichzeitig mit dem Roman erscheint das Hörbuch, gelesen von der Autorin. Dieses Attribut ist nur in den seltensten Fällen ein Qualitätsurteil. Bei Adriana Altaras ist das anders – nicht umsonst ist sie ausgebildete Schauspielerin. Mit Begeisterung wirft sie sich in die Dialoge, singt und murmelt, wenn es so im Text steht. Diese theatralische Leseweise passt hervorragend zu ihrem Buch, das schließlich von unzähligen Höhen und Tiefen erzählt.
AVIVA-Tipp: Starke Nerven braucht es schon, um Altaras´ Schilderungen durchzustehen. Zwischen lautem Lachen und Wutanfällen macht die Leserin die gleichen Gefühlsschwankungen durch wie die Autorin, und das spricht definitiv für den Roman. Für das Hörbuch spricht die ebenso eindringliche wie humorvolle Umsetzung durch die Autorin.
Zur Autorin: Adriana Altaras wurde 1960 in Zagreb geboren, 1964 Umzug nach Italien, ab 1967 Schulbesuch abwechselnd in Deutschland und Italien. Sie studierte Schauspiel an der Berliner Hochschule der Künste und an der New York University und ist seit 1983 in zahlreichen Filmen für Kino und Fernsehen zu sehen. Seit den 90er-Jahren inszeniert Adriana Altaras zudem regelmäßig an deutschen Schauspiel- und Opernhäusern. Sie ist Mitbegründerin des Off-Theaters Zum Westlichen Stadthirschen, war Mitarbeiterin bei Steven Spielbergs Shoah Foundation und übernahm 2002 die Künstlerische Leitung der Jüdischen Kulturtage in Berlin. In der Arena-Berlin inszenierte sie im Jahr 2003 die "Vagina-Monologe", im Maxim Gorki "Damen der Gesellschaft". Auszeichnungen u.a.: Bundesfilmpreis, Theaterpreis des Landes Nordrhein-Westfalen (zusammen mit Joachim Król), Silberner Bär für schauspielerische Leistungen (Berlinale 2000). Adriana Altaras lebt in Berlin, hat zwei Söhne und den braunen Gürtel in Karate. (Verlagsinformationen)
Die Autorin im Netz: altaras.eu/altaras
Adriana Altaras
Titos Brille. Die Geschichte meiner strapaziösen Familie
ISBN: 978-3-462-04297-9
Erscheinungsdatum: 24. Februar 2011
272 Seiten, gebunden
18,95 Euro
Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:
"Ausgelesen"-Interview mit Adriana Altaras, März 2003
Interview mit Adriana Altaras, Dezember 2003 anlässlich ihrer Intendanz der "Vagina-Monologe"
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