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Beitrag vom 10.06.2011
Melinda Nadj Abonji - Tauben fliegen auf
Sabine Grunwald
Mit melodischer und fesselnder Stimme erzählt die Autorin, Musikerin und Performerin von ihrer Sehnsucht nach der ungarischen Heimat und dem Fremdsein in zwei Kulturen. Die Romanvorlage wurde...
... im Oktober 2010 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet.
Ildiko, so heißt die Ich-Erzählerin, die uns mit ihrem warmen Timbre und ihrer ganz eigenen Diktion die Geschichte der Familie Kocsis erzählt.
Sie beschwört das Leben in der Vojvodina herauf, eine im heutigen Serbien gelegene autonome zentraleuropäische Region, die von jeher Sammelbecken verschiedener Sprachen, Völker, Sitten und Gebräuche war.
Mit ihrem Chevrolet mit Schweizer Kennzeichen, der nicht für die schlechten Dorfstraßen gemacht ist, besucht die Familie Kocsis ihr Dorf, wo die ungarische Minderheit lebt, zu denen auch die Kocsis gehören. Vater und Mutter sind in den 1970er Jahren in die Schweiz ausgewandert, haben sich dort in mühevoller Arbeit eine Existenz aufgebaut und später die beiden Töchter Ildiko und Nomi nachgeholt.
In das kleine Dorf der verlorenen Heimat der Eltern und dem Sehnsuchtsort einer glücklichen Kindheit kehren sie immer wieder zurück, zu Hochzeiten und Beerdigungen, zu der geliebten Mamika, die Mutterersatz war und den anderen unzähligen Verwandten, bis der Krieg in Serbien zwischen den unterschiedlichen jugoslawischen Republiken und Minderheiten eine Einreise unmöglich macht.
Zuhause ist die Familie Kocics in der Schweiz, die Eltern haben den schwierigen Test für die Einbürgerung – mit Hilfe ihrer Töchter – geschafft, sich hochgearbeitet, betreiben zuerst eine Wäscherei, eine Caféteria und zuletzt ein gut gehendes Café. Die Kinder sind dort aufgewachsen, aber fühlen sich nicht immer angenommen.
Besonders Ildiko ist sensibel für die subtilen Vorbehalte gegenüber den "Fremden". Während die Eltern bemüht sind, besser als die Schweizer zu sein und jede Demütigung herunterschluckten, nehmen die Kinder ihre Umgebung anders wahr. Zuerst mit dem Blick des Kindes, dem alles neu ist, dann mit dem Verständnis der jungen Frau, die die Brüche zwischen den verschiedenen Welten wahrnimmt und mit Empathie auf die so unterschiedlichen Erfahrungen reagiert. Was wie eine scheinbar unbeschwerte Balkan-Komödie beginnt, wandelt sich mit dem anbahnenden jugoslawischen Krieg in eine Tragödie.
Zur Autorin: Melinda Nadj Abonji wurde 1968 in Serbien in der Vojvodina geboren, ihre Familie gehörte dort zur ungarischen Minderheit. Sie wuchs bei ihrer Großmutter auf und kam als Kind in die Schweiz, wo sie auch heute noch lebt. Fünf Jahre hat sie an ihrem Buch gearbeitet und die von ihr autorisierte, gekürzte Lesefassung im November 2010 in einem Züricher Studio eingelesen. Melinda Nadj Abonji ist nicht nur Autorin, sondern auch Musikerin und Performerin. Sie tritt sowohl als Solistin auf als auch gemeinsam mit dem Rapper Jurczok 1001, ihr Schreiben betrachtet sie gleichfalls als Musik.
Der Roman wurde im Oktober 2010 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet, im November folgte dann der Schweizer Buchpreis. (Quelle: Verlagsinformationen)
AVIVA-Tipp: Mit klangvoller Stimme und malerischer Sprache zieht uns die Erzählerin in ihren Bann. Ohne falschen Pathos und verklärende Romantik hören wir von der ländlichen Idylle des einstigen Jugoslawiens im Gegensatz zu der modernen Schweiz. Die beiden konträren Wellten werden spannend gegenübergestellt und die Gefühlswelten Ildikos, Nomis und ihrer Angehörigen einfühlsam beschrieben. Ein wahrer Hörgenuss, schade um die gekürzte Version. Dann muss man doch noch zusätzlich zum Buch greifen!
Melinda Nadj Abonji
Tauben fliegen auf
Gekürzte Lesung
Gesprochen von Melinda Nadj Abonji
Random House, erschienen Februar 2011
Originalverlag: Jung und Jung
6 Audio-CDs, Laufzeit: ca. 420 Minuten
ISBN: 978-3-8371-0847-7
24,99 Euro