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Beitrag vom 02.06.2011
Ingrid Betancourt - Kein Schweigen, das nicht endet
Kristina Tencic
Es wurde viel diskutiert, gemunkelt und spekuliert über das bekannteste Geiselopfer der kolumbianischen FARC-Rebellen. Nun legt die Politikerin ihre persönliche Version der Ereignisse dar.
Warten. Beengt auf ein paar wenige Quadratmeter sitzt sie da und wartet. Auf das Ende des Regens, auf etwas zu essen, auf die Nachrichten im Radio, auf das Militär, auf ein Wunder. Eingesperrt mit Fremden, mit denen frau im normalen Leben vielleicht nicht einmal ein freundliches Wort an der Supermarktkasse gewechselt hätte. Blicke werden zu Instrumenten, Worte zu Schwertern, Gedanken zum einzigen Schlupfloch, die eigene Angst zum ärgsten Feind.
Über sechs Jahre hinweg musste die Franko-Kolumbianerin Ingrid Betancourt erfahren, wie es ist, fremdbestimmt sein Leben wartend abzusitzen. Obgleich das kolumbianische Militär viele Suchaktionen startete und international dem bekanntesten Geiselopfer der Farc-Rebellen ("Gangster, keine Rebellen" wie Betancourt sie beschreibt,) viel Aufmerksamkeit zuteil wurde, gelang ihre Befreiung erst durch eine Militäraktion, um welche sich jedoch auch Mythen ranken. Denn nicht nur das Misstrauen in die Guerilla ließ Betancourt in ständiger Angst leben, denn auch die Armee im Land ist korrumpiert.
Verwirrend für die Geisel war auch, dass die Politikerin, welche in Kolumbien die Präsidentschaftskandidatin der Oxigeno Verde war, ursprünglich für einen Dialog und die gleichen Ziele der FARC eingesetzt wurde. Die FARC, die heutzutage tief im Drogengeschäft verstrickt ist, war ursprünglich eine Guerilla zur Verteidigung der Menschenrechte. Von dem über die langen Haftjahre entwickelten Verständnis für die Guerilla zeugt etwa ihr Ausspruch, dass es "nicht die Männer als solche, sondern ihr Bild von sich selbst" war, das ihr zum Verhängnis wurde. Dies half ihr, nicht ihrem Hass zu erliegen.
Indes überraschend für den/die Leser/in ist, dass die nach ihrer Geiselhaft vom Papst empfangene und als Friedensnobelpreisempfängerin ins Gespräch gebrachte Betancourt schreibt: "Im Zivilleben hatte ich immer das Gefühl gehabt, dieser Krieg ginge mich nichts an". Dies wirft zumindest Fragen auf, wenn es nicht gar an ihrer Glaubhaftigkeit als Politikerin kratzt.
Sodann hat nicht nur ihr Verschwinden, ihre Person und ihre Befreiung viel Wirbel ausgelöst, auch die Veröffentlichung dieses Buches gab Anlass zu diversen Diskussionen, durch ihre zur gleichen Zeit gefangen genommene Assistentin Clara Rojas, die Betancourt der Lüge bezichtigt. Deren Schilderungen über eine gewollte Schwangerschaft Rojas mit einem Guerilla seien frei erfunden. Auch wurde Betancourt wiederholt Arroganz und Überheblichkeit von Seiten anderer Mitgefangenen vorgeworfen, ganz zu schweigen von den Gerüchten über eine Affäre ihrerseits mit dem FARC-Anführer Cano, was Betancourt wiederum dementiert.
Bedauernswerterweise werfen diese Diskussionen nicht nur einen Schatten auf alle Beteiligten sondern ziehen sich auch durch das gesamte schriftliche Zeugnis ihrer Geiselhaft. So mischt sich denn ein gewisser Beigeschmack der Halbwahrheit unter die Zeilen, etwa wenn gar zu viele Belanglosigkeiten die Seiten dominieren oder sie sehr viel von ihrem Vater erzählt, der eine wichtige Rolle in ihrem Leben spielte (er starb einen Monat nach ihrer Verschleppung). Und dennoch kann frau sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie es in gewisser Weise vorzieht, den Fokus auf ihn zu legen, im Gegensatz zu dem erneut umstrittenen Verhältnis zu ihrem Mann (von dem sie sich bald nach ihrer Rückkehr scheiden ließ) oder ihren Kindern.
AVIVA-Tipp: Aufwühlend und packend schildert Ingrid Betancourt ihre unfreiwillige Dschungelodyssee, die neben viel Leid, Unterdrückung und Brutalität auch von Hoffnung, Würde und Verständnis geprägt war. Ihr Wandel von anfänglichen Luxusvorstellungen hin zu einer in sich gekehrten Bibelstudierenden bleibt jedoch manchmal mit leeren Stellen und Fragezeichen versehen, die auch dieses autobiografische Werk leider nicht zu füllen versteht. Muss es ja aber vielleicht auch gar nicht.
Zur Autorin: Ingrid Betancourt wurde 1961 in Bogotá geboren und wuchs in Paris auf, wo sie Politik studierte. Nachdem sie 1989 nach Kolumbien zurückkehrte, war sie von 1994 bis 1998 Abgeordnete im Repräsentantenhaus. Sie erhielt Morddrohungen und brachte 1996 ihre Kinder ins Ausland, eine Erfahrung, die sie in ihrem ersten Buch "Die Wut in meinem Herzen" beschrieb. Als Präsidentschaftskandidatin auf Wahlkampftour wurde sie am 23. Februar 2002 entführt und erst am 2. Juli 2008 aus der Hand der FARC-Guerilla befreit. Heute lebt sie in den USA und Frankreich. (Quelle: Droemer)
Kein Schweigen, das nicht endet
Ingrid Betancourt
Originaltitel: Même le silence a une fin
Droemer Verlag, erschienen 2010
Gebundene Ausgabe, 736 Seiten
ISBN: 3-426-27548-1
22,99 Euro
Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:
Ingrid Betancourt am 2. Juli 2008 nach über sechs Jahren befreit
(Quellen: welt.de, sueddeutsche.de)