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Beitrag vom 17.05.2011
Ursula Priess - Mitte der Welt. Erkundungen in Istanbul
Jana Muschick
In ihrem Montageroman zeigt die Autorin, dass Unterschiede nicht immer Trennendes bedeuten müssen. In vielen Farben zeichnet die Literaturwissenschaftlerin ihre Sehnsüchte und ihr Bild von Istanbul.
Sehnsuchts-Suche
Istanbul – getrennt durch den Bosporus in Europa und Asien – war für einige Zeit Wahlheimat der Autorin Ursula Priess. Facettenreich beschreibt sie in ihrem neuen Roman das Leben einer zugezogenen Europäerin in der orientalischen Metropole. Die Begegnungen mit den BewohnerInnen der Stadt baut Priess in einem großen Mosaik aus tausend Steinen: Erinnerungen wie drei Finger dick Schnee , ihre Treffen mit KünstlerInnen und MusikerInnen, GlückssucherInnen und GemüsehändlerInnen, die der Frau aus Deutschland nicht immer wohlgesonnen sind. So blickt sie ein Antiquar an seinem kleinen Stand misstrauisch an, als sie eine Götterstatue kaufen möchte. Es scheint ihm nicht zu behagen, einer "Ungläubigen" seine Talismane zu verkaufen. Nach kurzem Zögern akzeptiert er das Angebotene, denn er braucht jede Lira, um seine Familie zu ernähren.
Fremde in der Fremde
Zwischen Mittelmeer und Schwarzem Meer erkennt das lyrische Ich des Romans schnell, dass es das Fremde in der Fremde ist. Das mäßige Türkisch wird über die Maßen gelobt. Immer ist sie auf der Hut, nichts Falsches zu sagen oder zu tun, lauscht interessiert den türkischen Sprichwörtern, die so anders klingen als die deutschen, obwohl sie doch das Gleiche meinen.
Can çýkar, huy çýkmaz.
Die Seele verlässt einen Menschen, die Gewohnheit jedoch nicht.
Und so erlebt es auch die Autorin. An den Besuchen im Hamam nimmt sie nur zögerlich mit den neuen Freundinnen teil, braucht Wochen, um sich zu einem Mitgehen zu entscheiden. Ihr Liebster nennt sie "Granatapfelblüte". Stets lässt die Autorin zwischen den Zeilen spüren, dass sie nur ein kleiner Teil dieser 13-Millionen-EinwohnerInnen-Stadt ist, der sie ihre Hommage gewidmet hat.
Verschiedene Perspektiven
Im Jahr 2010 wurde diese pulsierende Stadt zur "Kulturhauptstadt Europas" ernannt. Das Geschehen des Romans wird nicht durch beeindruckende Bauten oder natürliche Katastrophen aufgebauscht. Priess setzt ihren Fokus auf die Verschiedenartigkeiten der IstanbulerInnen und erweckt das verheißungsvolle Bild einer Stadt zum Leben, die ihr eigener Sehnsuchtsort ist. Der Silhouette Istanbuls nähert sich die Autorin Ursula Priess authentisch an, indem sie den Duktus der türkischen Sprache in ihren eigenen Sprachstil adaptiert. Das lässt die Leserin kurz stutzen, vermitteltihr aber auch das Gefühl, durch diese Erzählart tiefer in die Metropole eintauchen zu können, als es durch die reine Wiedergabe des Gesehenen möglich gewesen wäre.
Zur Autorin: Ursula Priess wurde 1943 als Tochter der Schweizer Architektin Gertrud Frisch von Meyenburg und dem Dramatiker Max Frisch in Zürich geboren. Sie studierte Literaturwissenschaft, verließ 1966 die Schweiz und arbeitete als Heilpädagogin in Schweden, Schottland und Deutschland. Sie ist Mitbegründerin verschiedener Initiativen, u.a. der heilpädagogischen Schule in Kiel und der sozial-therapeutischen Lebens- & Werkgemeinschaft in Lahore/Pakistan. Auch als Mutter von vier Kindern trat sie mehrere Reisen durch Europa, Indien und Pakistan an. In der Türkei ließ sie sich längere Zeit nieder. 2009 erschien ihr vielbeachteter Roman "Sturz durch alle Spiegel" im Amman-Verlag. Er handelt von ihrem Leben mit dem berühmten Vater Max Frisch. Heute lebt Priess in Norddeutschland und Berlin. (Quelle: Random House)
AVIVA-Tipp: Ursula Priess formt ihre Erfahrungen zu literarischem Material. In ihrem Roman gelingt es ihr auf melancholisch-subtile Art, die Leserin an die Hand zu nehmen und durch die bunten Straßen Istanbuls zu führen.
Ursula Priess
Mitte der Welt. Erkundungen in Istanbul
btb, erschienen März 2011
Gebunden, 224 Seiten
ISBN-13: 978-3-442-75299-7
19,99 Euro
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