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AVIVA-BERLIN.de im Dezember 2024 - Beitrag vom 26.08.2011


Simone Werle - Urban Knits
Nina Breher

Häkeln und Stricken – eine Domäne der Großmütter dieser Welt, die ihre Familie mit Socken und Schals eindecken? Nein! Dank fleißigen KünstlerInnen werden Handarbeiten straßentauglich und erobern...




...den öffentlichen Raum. Dies dokumentiert ein Bildband von Simone Werle.

Street Art – der Begriff suggeriert Hip-Hop-Kultur, Kritzeleien in Autobahnunterführungen oder kunstvoll mit Schablonen verzierte Häuserfronten. Der Gestank von frischem Autolack klebt an diesem Wort, doch im April 2011 erschien ein Buch, das zeigt, dass die urbane Ausdrucksform in den letzten Jahren um eine Facette reicher geworden ist.

Sie beglücken Statuen mit farbenfrohen Stulpen, häkeln Bäume und Straßenlaternen rundum ein, verhängen ganze Parkbänke mit Decken – und dies sind erst einige Ideen der "Urban Knitters". Herausgeberin Simone Werle nennt die SchafferInnen der von ihr gesammelten Werke "HandarbeitsanarchistInnen". Sie sind aktiv in Amerika, Israel, Kanada, Schweden, Nepal und Indien. Und auch hier in Berlin haben wir die Kunstwerke schon entdecken können.

JedeR kennt diese Fahrräder – sie stehen monate- und jahrelang vergessen an den Rändern befahrener Straßen, vielleicht, weil ein Rad verbogen ist, vielleicht, weil der/die BesitzerIn den Schlüssel verloren hat. KeineR weiß es genau, aber mit der Zeit werden sie zur Szenerie der Straße, zu Objekten, die mensch täglich passiert und höchstens unbewusst wahrnimmt. Sie sind den Elementen schonungslos ausgesetzt und nach einiger Zeit alles andere als schön anzusehen. Hier kommen die urbanen StrickerInnen ins Spiel: Sie schwingen ihre Nadeln und verpassen dem vergessenen Fahrrad ein neues Aussehen, das so zu einer liebevoll gestalteten Kleinigkeit im sonst oft grauen Stadtraum wird.

© Nina Breher, gesehen 2011 in Warschau


Die Urban Knitters sind Menschen, die sich den öffentlichen Raum zurücknehmen, augenzwinkernd und mit viel Liebe zum Detail: Im Buch finden sich Fotos von gestrickten Blumen, die sich an einem Maschendrahtzaun hochranken, die Darstellung eines Pacman-Spiels an einem Straßenschild, ein öffentliches Telefon mit gelbem Haltegriff, Kuhstatuen mit Tennissocken, selbst Hydranten werden mit der richtigen Bedeckung zu Fliegenpilzen – die Liste ist lang. Auffallend ist, dass die Strickereien immer bunt und lustig, die Botschaften immer optimistisch sind: Die Kunstwerke wollen Freude machen, das Politische liegt nicht in der Aussage, sondern in der Form des Arbeitens.

Kleiner Wermutstropfen: "Urban Knits" ist recht handlich und bereits nach einer Viertelstunde hat mensch sich an den Bildern sattgesehen. Das kluge Vorwort erstreckt sich leider nur über eine Seite, und der Entstehungskontext der Werke bleibt im Dunkeln. Mehr Hintergrundinformationen wären toll gewesen: Wer sind diese KünstlerInnen, was wollen sie vermitteln? Wie bringen sie ihre Installationen an, und wie lange dauert es, bis jemand sie wieder abnimmt?

Neu ist, dass das Arbeitsmaterial selbst weiblich konnotiert ist. Selbstverständlich haben Frauen sich die klassische Straßenkunst längst angeeignet und bringen ihre Botschaften ebenso an die Wände wie Männer. Und doch – die Sprühdosenkunst, die in ihrer heutigen Form aus von New Yorker Gangs der 30er Jahre ihren Ausgang genommen hat, ist eine männliche Domäne. Wenn es keine explizite Botschaft hat, die auf eine Frau als Urheberin hinweist, unterstellt mensch dem landläufigen Graffiti einen männlichen Künstler. Nicht so bei den hier gezeigten Installationen!

AVIVA-Tipp: Die Verbindung von Handarbeit und Street Art ist für beide Seiten produktiv: Die Tätigkeiten Häkeln und Stricken entfliehen dem Klischee, Frauendomänen zu sein, Street Art dem Vorwurf, eine überwiegend männliche Kunst zu sein. So erweitert sich die politische Forderung "Reclaim your cities!": "Reclaim your cities, reclaim knitting!"


Zur Herausgeberin: Simone Werle hat Journalismus, Modemarketing und Kunstgeschichte studiert und schrieb für maßgebliche Modezeitschriften im In- und Ausland. Neben der hier besprochenen Veröffentlichung hat sie zahlreiche Modebücher herausgegeben (Quelle: Verlagsinformation). Mehr Informationen zu Simone Werle finden Sie unter: www.simonewerle.com.

Simone Werle
Urban Knits

Deutsch / Englisch
Prestel Verlag, erschienen: April 2011
Gebunden, 96 Seiten
ISBN: 978-3-7913-4478-2
14,95 Euro
Weitere Informationen finden Sie unter: www.prestel.de

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Beitrag vom 26.08.2011

AVIVA-Redaktion