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Beitrag vom 16.06.2011
Silke Scheuermann - Shanghai Performance
Marie-Luise Wache
In einer dramatisch verstrickten und gleichzeitig erfrischend ehrlichen Geschichte rechnet die Autorin vor der Kulisse einer anonymen Hochhausstadt gleich mit drei Themen ab, ...
... mit einer erfolgsorientierten Generation, der Oberflächlichkeit einer überinszenierten Kunstszene und drei exemplarisch für diesen Lifestyle stehenden Frauenschicksalen.
Die angesehene und schillernde Performancekünstlerin Margot Wincraft nennt die ganze Welt ihre Bühne. Ständig begleitet von einer Entourage aus FotografInnen und ihrer Assistentin Luisa reist sie von einer Stadtkulisse zur nächsten, auf der Suche nach Inspiration und passendem Beiwerk für ihre Performancekunst. Diese besteht für Margot aus meist nackten, auf sich fokussiert räkelnden und in die Leere starrenden Models. Für ihr Werk bedeutend ist, dass keine Beziehung zu dem Publikum entstehen darf. Diese bewusst geförderte Distanz und Kühle fasziniert und beängstigt ihre BewundererInnen zugleich und ist entscheidend für die Entwicklung und Handlungen jener Menschen, die die Künstlerin umgeben.
Die Geschichte beginnt, indem Margot Wincraft überraschend ein Angebot aus Shanghai erhält und annimmt. Die sich ständig im Wandel befindende und dabei anonymisierende Stadt ist die perfekte Kulisse für eine zunächst harmlose Geschichte, welche sich jedoch in unaufhaltbarem Tempo und mit vielen Wirrungen zu einem klug und fesselnd inszenierten Drama aufbaut.
So muss die Assistentin Luisa zusehen, wie sich ihre Chefin mit den Wochen, die sie in China verbringen, immer seltsamer verhält. Mittels eines wohldurchdachten Ablenkungsmanövers wird ihr schließlich der wahre Grund für den Aufenthalt mitgeteilt: Die von Margot bislang verheimlichte Tochter Winona, lebt in der Millionenstadt und fordert Kontakt.
Etwa zwanzig Jahre zuvor nämlich studierte die Performancekünstlerin in Amerika und brachte dort eine Tochter zur Welt, die sie, um ihre Karriere zu fördern, weggab. Was bei Margot mit einer anfänglichen Wiedersehensfreude und der Versöhnung mit einer oberflächlich gefühlten Schuld beginnt, entpuppt sich als temporäre Laune. Das "verstoßene Kind" wird erneut mit einer Distanziertheit und Kühle zurückgelassen, die schließlich den Auftakt zur großen Wende bildet.
Nach dem explosiven Umschwung entsteht eine Stille und Leere, in der die Protagonistinnen endlich klar zu sehen sind. Alle Oberflächlichkeiten sind abgefallen, der rohe Kern wird sichtbar. Eine Einsamkeit wird spürbar, die die Protagonistinnen zu neuen Taten antreibt.
Silke Scheuermann zeichnet in ihrem neuen Roman drei Hauptfiguren, die in verschiedenen Richtungen nach dem erfüllten Lebensweg streben. Alle sind durch ihre Schicksale und Entscheidungen fest miteinander verbunden. Es ist das Verwirrende und gleichzeitig Faszinierende an diesem Roman, dass die Nähe zwischen diesen Menschen jederzeit mit bewusster Distanz durchbrochen werden kann.
Eine Anlehnung Margots Charakters an die real existierende Performancekünstlerin Vanessa Beecroft ist möglich. Diese schockiert seit 1995 mit ihren Installationen, für die sie vorwiegende nackte oder halbnackte Frauen zu Themen wie Gewalt, Uniformität oder Schönheitswahn inszeniert.
Mittels einer schlichten Sprache legt die Autorin den Fokus auf die Entscheidungen und sich entwickelnden Beziehungen oder Nicht-Beziehungen der Frauen. Die Kühle, die die Figuren auszeichnet, bewirkt, dass auch die Leserin außen vor bleibt, nie richtig eintauchen kann. Hat sie einmal einen Zugang gefunden, wird er ihr auf der nächsten Seite wieder versperrt. Es ist ein Spiel, welches die Autorin mit der Lesenden führt. Eines, bei dem dieselbe Faszination und Verwirrtheit entsteht, mit der frau auch Margots Kunst betrachten kann.
AVIVA-Tipp: Die präzise und mitleidlose Zeichnung einer Generation und die Erzählung dreier Frauenschicksale in "Shanghai Performance" entwickelt sich langsam aber unaufhaltsam zu einer Geschichte, deren Sog frau nicht entgehen kann.
Zur Autorin: Silke Scheuermann, geboren 1973 in Karlsruhe, lebt in Offenbach. Sie studierte Theater- und Literaturwissenschaften in Frankfurt, Leipzig und Paris und arbeitete am Germanistischen Institut der Universität Frankfurt. Neben Kritiken veröffentlicht sie Gedichte und Erzählungen in Zeitschriften und Anthologien und erhielt mehrere Stipendien und Literaturpreise, darunter den Leonce-und-Lena-Preis der Stadt Darmstadt. 2006 war sie in der Jury des weltweit bedeutenden Preises für Kurzgeschichten, dem Frank OConnor International Short Story Award. Erzählungen sammelte sie in dem 2005 erschienen Band "Reiche Mädchen". Ihr erster Roman "Die Stunde zwischen Hund und Wolf" entstand zwei Jahre darauf.
Silke Scheuermann
Shanghai Performance
Schöffling & Co., erschienen Februar 2011
312 Seiten. Gebunden
19,95 Euro
ISBN: 978-3-89561-373-9
www.schoeffling.de
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