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Beitrag vom 21.04.2011
Nicole Krauss - Das grosse Haus
Ricarda Ameling
Vier auf den ersten Blick nicht zusammengehörende Geschichten, verbunden nur durch einen hölzernen Tisch. Budapest, London, New York, Jerusalem – ein Schreibtisch lernt die Welt kennen und ist...
... jedem seiner Besitzer und Besitzerinnen ein ganz besonderer Gefährte. Verschiedene Schicksale der neueren jüdischen Geschichte werden so von der Autorin miteinander vernetzt.
New York 1972: Die geschiedene Schriftstellerin Nadja erzählt einer zunächst unbekannten Person, "Euer Ehren", von ihrem persönliches Verhältnis zu einem Möbelstück, das ihr Leben veränderte: "ein riesiges, bedeutungsträchtiges Ding, das die Bewohner des Zimmers, in dem er stand, bedrückte, sich als unbelebt ausgab, sich aber ständig wie eine Venusfliegenfalls in Bereitschaft hielt, über sie herzufallen und sie via einer seiner schrecklichen kleinen Schubladen zu verdauen." Der Tisch gehörte dem chilenischen Dichter Daniel Varsky, der in seine Heimat zurückkehren wollte und übergangsweise einen Platz für sein gesamtes Mobiliar brauchte. Nadja sah den faszinierenden Varsky nie wieder – er wurde Opfer der Pinochet-Diktatur.
Nach einem Vierteljahrhundert erhält Nadja einen Anruf. Die Anruferin, eine junge Frau namens Leah, eine gebürtige Israelin, behauptet die Tochter Varskys zu sein. Sie bittet um das, wovor Nadja jahrelang Angst hatte: Sie möchte den Schreibtisch ihres Vaters mitnehmen. Die menschenscheue Nadja verzweifelt an dem Verlust des geliebten Möbelstücks, kann nicht mehr schreiben und sieht ihr Leben als eine einzige Aneinanderreihung von Katastrophen. "Ich brauche ihnen das nicht zu erzählen, Euer Ehren, ich spüre, dass Sie verstehen, was wahre Einsamkeit bedeutet" Sie beschließt, auf der Spur des Schreibtischs nach Jerusalem zu reisen und sieht sich auf erniedrigende Weise mit ihrer eigenen Vergangenheit konfrontiert.
Genau hier wird der/die Lesende in den inneren Monolog und die schmerzhafte Erinnerung eines Vaters geworfen, dessen ganzer Zorn sich auf seinen Sohn Dov richtet, der ihm schon als übersensibles Kind seltsam fremd war und mit für den Vater unerklärlichen Dingen haderte. Immer war es die Mutter, die den kleinen Jungen verstand, und auch als dieser älter wurde, entstand kaum Vertrauen und Nähe zwischen Vater und Sohn. Dov, der eigentlich Schriftsteller werden wollte, emigrierte als junger Mann nach England um Jura zu studieren – nun dient eine reale, kilometerweite Entfernung als Verbildlichung der emotionalen Distanz zwischen ihm und seiner Familie Erst nach dem Tod der Mutter nutzte Dov die Reise zur Beerdigung in Israel, um sich der eigenen Vergangenheit und letztlich auch dem Vater zu stellen. Die Erinnerungen und die Sorge des Vaters um den als Soldaten stationierten Sohn erinnern in ihrer Intensität stark an David Grossmans Roman "Eine Frau flieht vor einer Nachricht", welcher auf beeindruckende Weise die Sorge einer Mutter um ihren Sohn thematisiert.
Die nächste Geschichte führt nach London, und endlich erkennt die Leserin einen möglichen Zusammenhang. Arthur, ein emeritierter Professor, trauert um seine verstorbene Frau: Lotte Berg, eine in Nürnberg geborene Schriftstellerin, die 1939 mit Hilfe eines Kindertransport nach England gelangte und so als Einzige ihrer Familie den Nationalsozialisten entkommen konnte - ihrem lebenslangen Trauma jedoch nicht. Auch sie war Hüterin des Schreibtischs, welcher sich scheinbar auf der Flucht oder im Exil lebende jüdische Einzelgänger sucht.
Der früher in Oxford lehrende Arthur erinnert sich noch bis ins Detail genau daran, wie eines Tages im Jahr 1970 ein junger, chilenischer Dichter wie aus dem Nichts vor seiner Tür stand. Arthur hielt ihn zunächst für einen Bewunderer seiner Frau, spürte aber bald, dass die beiden mehr verband. Die kurze, intensive Freundschaft zwischen seiner Frau und dem jungen Mann war für ihn schwer erklärbar, gab aber dennoch Anlass zur Eifersucht. Eines Tages ist Daniel genauso plötzlich verschwunden wie er gekommen ist, und mit ihm Lottes geliebter Schreibtisch. Dieser diente ihr, genau wie später Nadia und David, als Inspiration und Weggefährte auf dem einsamen Weg beim Schreiben. Nach dem Tod der an Alzheimer Erkrankten will der trauernde Witwer endlich in Erfahrung bringen, was die verschwiegene Lotte ihr ganzes Leben für sich behielt und macht sich auf die Suche nach ihrem Geheimnis.
Mit der letzten Erzählung einer jungen Amerikanerin klären sich einige Verbindungen: Isabel kommt nach Oxford, um in Literatur zu promovieren. Hier verliebt sie sich in Joav, der mit seiner Schwester Leah in einem großen Haus mit ständig wechselndem Mobiliar lebt. Früher zogen die beiden Geschwister mit ihrem Vater George, einem ungarischen Antiquitätenhändler, von Stadt zu Stadt. Obsessiv arbeitet er daran, während des Zweiten Weltkrieg geplündertes jüdisches Eigentum wiederzubeschaffen und somit den Angehörigen ein Stück Heimat zurückzugeben – und verbringt dabei sein ganzes Leben damit, das Budapester Arbeitszimmer seines Vaters, einem jüdischen Gelehrten, zu rekonstruieren.
Ein Schreibtisch als Verbindungsstück zwischen Menschen
Die nicht linear erzählte Geschichte bedient sich unterschiedlicher Erzählperspektiven, auktoriale und personale Erzählhaltung wechseln sich ab. Da sich Vergangenheit und Gegenwart abrupt in inneren Monologen abwechseln und die ErzählerInnen in ihrer eigenen Gedankenwelt hin und her springen, kann es zu einiger Verwirrung beim Lesen kommen.
Ein besonderes Merkmal ist es, dass der Roman vom Motiv vorangetrieben wird, nicht von seiner Handlung. Die Autorin nimmt die Herausforderung sehr ernst, ihren Charakteren mit all ihren Familiengeschichten, Geheimnissen und Tragödien eine Stimme zu verleihen. Den Großeltern von Nicole Krauss gelang es noch rechtzeitig, Europa zu verlassen, andere Familienangehörige überlebten den Holocaust nicht. Diese autobiographischen Elemente hat Krauss in "Das grosse Haus" einfließen lassen, ähnlich wie auch ihr Ehemann Jonathan Safran Foer Familiengeschichte in seinem Roman "Alles ist erleuchtet" verarbeitet hat.
Auch die von der Autorin gewählten sprachlichen Mittel, streckenweise gekennzeichnet von fast seitenlangen, verschachtelten, zerstückelten und fragmentarischen Sätzen, ähneln denen ihres berühmten Mannes. Dies bestärkt böse Zungen in dem Verdacht, sie hätte sich von ihm helfen lassen - ähnliche Vorwürfe wie sie auch Siri Hustvedt als Ehefrau des Schriftstellers Paul Auster ertragen musste.
AVIVA-Tipp: Auch wenn ihr Stil bisweilen etwas gewöhnungsbedürftig ist und Geduld und Neugier verlangt, ist "Das grosse Haus" ein beeindruckender Roman, welcher sich mit den Motiven des Vergessen und des Erinnerns, des Gedächtnisses und des historischen Erbes auseinandersetzt. Die Imagination der Schriftstellerin Nicole Krauss sowie ihre Gabe, sich in die unterschiedlichsten Charaktere sensibel einzufühlen und sie bis auf den Grund ihrer Seele zu erkunden, halten den Roman aufrecht - so gelingt es der Schriftstellerin, den/die Lesende bis ins Detail Anteil nehmen zu lassen am Glück und der Freude, öfter aber am Leid und der Zerbrechlichkeit der ProtagonistInnen.
Zur Autorin: Nicole Krauss, geboren 1974 in New York, lebt mit ihrem Mann, dem Schriftsteller Jonathan Safran Foer, und zwei Kindern in New York. Sie studierte unter anderem Englische Literatur an der Stanford University und an der Universität Oxford. Von November 2006 bis Februar 2007 war Nicole Krauss Kolumnistin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. 2007 war sie Fellow der American Academy in Berlin und arbeitete dort an ihrem dritten Roman. Im Jahr 2006 erschienen ihre ersten beiden Romane im Rowohlt-Verlag, "Kommt ein Mann ins Zimmer" ("Man Walks Into a Room", 2002) und "Die Geschichte der Liebe" ("The History of Love", 2005).
Weitere Informationen zu Nicole Krauss finden Sie unter:
nicolekrauss.com und www.rowohlt.de
Nicole Krauss
Das grosse Haus
Originaltitel: Great House
Aus dem Amerikanischen von Grete Osterwald
Rowohlt Verlag, Reinbek 2011
375 Seiten, gebunden, mit Bändchen
ISBN-13: 978-3-498-03553-2
19,95 Euro
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