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AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 04.02.2011


Peer Meter und Barbara Yelin - Gift
Anna Hohle

Die 1831 öffentlich vollzogene Hinrichtung der Giftmörderin Gesche Gottfried bildet die historische Grundlage für diese düstere Graphic Novel. Protagonistin ist eine junge Schriftstellerin, die...




... durch einen Zufall Zeugin der Ereignisse wird und die daraufhin die Fragen um Schuld, Verbrechen und die Verantwortung der Gemeinschaft nicht mehr loslassen.

Im Jahre 1828 wurde Bremen durch einen schockierenden Kriminalfall erschüttert. Die 43jährige Gesche Gottfried gestand in ihrer Vernehmung, von 1813 bis 1827 fünfzehn Menschen mit Arsen ermordet und neunzehn weiteren regelmäßig Gift verabreicht zu haben. Unter den Ermordeten waren ihre Eltern, Kinder und Ehemänner, aber auch Freunde und Nachbarn. Das Bremer Bürgertum zeigte sich schockiert – lange Jahre war Gottfried durch Wohltätigkeit für Bedürftige und die aufopfernde Pflege der von ihr vergifteten Kranken bekannt gewesen.

Der Autor Peer Meter schildert die historischen Ereignisse aus Sicht einer jungen Schriftstellerin, die 1831 in Bremen eintrifft, um einen Reisebericht über die Hansestadt zu verfassen. Dort herrscht eine gespannte Atmosphäre in Erwartung der baldigen Hinrichtung, der sich auch die junge Frau bald nicht mehr entziehen kann. Als sie jedoch nach und nach Zweifel an der Schuldfähigkeit der Mörderin entwickelt, sieht sie sich nach kurzer Zeit den Anfeindungen von Justiz und Klerus ausgesetzt und gerät schließlich selbst in Gefahr.

Eine Fülle historischer Details bildet die Grundlage, auf der sich die Erzählung entwickelt. Peter Meer beschäftigt sich seit langem mit dem Fall Gottfried. Am Ende der Bilderzählung finden sich detaillierte Informationen zu den in der Geschichte auftauchenden historischen Personen und den Prozessakten, aus denen in "Gift" mehrfach zitiert wird. Jene Akten verdeutlichen, dass es sich bei Gottfried, die nie ein Motiv für ihre Taten angeben konnte, um eine manisch getriebene, aus Sicht moderner Psychologie seelisch erkrankte Person handelte.

Die junge Schriftstellerin, die der Autor nach eigener Aussage mit Zügen Malwida von Meysenbugs ausstattete, zieht denn auch dieselben Schlüsse, muss jedoch erkennen, dass die Einwände einer jungen, alleinreisenden Frau allerorten auf Ablehnung stoßen, sogar Aggressionen hervorrufen. Meter legt Gottfrieds Verteidiger Friedrich Leopold Voget jenes Schopenhauer-Zitat in den Mund, das die misogynen Vorurteile damaliger Zeit auf den Punkt bringt: "Eine Frau sollte die Schuld des Lebens nicht durch Tun, sondern durch Leiden abtragen. Durch die Wehen der Geburt und durch die Unterwürfigkeit unter den Mann, dem sie eine geduldige und aufheiternde Gefährtin sein soll".
"Da wundert es mich nicht, wenn in dieser Stadt Frauen dahin kommen, ihre Männer zu vergiften" lautet die resignierte Reaktion der Protagonistin.

Immer mehr drängt sich ihr die Mitschuld des Bremer Bürgertums auf, das jahrelange Hinweise auf die Taten Gottfrieds ignorierte oder missdeutete. Die kranken Taten einer Einzelnen in einer kranken Gesellschaft verwurzelt zu sehen – diesen Schluss weisen die Zeitgenossen jedoch vehement von sich, ebenso wie die Hinzzuziehung psychischer Gutachten – "heilloser Theorie aus Frankreich".

Scharfsinnig und kenntnisreich verflicht der Autor die fiktiven Erlebnisse seiner Protagonistin mit historisch Überliefertem. Auch finden sich in "Gift" zahlreiche intertextuelle Bezüge zu literarischen und philosophischen Werken des 18. und 19. Jahrhunderts, von Nietzsche und Schopenhauer bis zu Novalis, Fontane und Kafka.
Ebenso werden an vielen Stellen historische Personen angeführt und namentlich genannt. So ist der Auftraggeber der fiktiven Schriftstellerin niemand anderes als Carl Brockhaus, sie ist enge Freundin von Bettina von Arnim und traf Heine in Paris. Lou Andreas Salomé tritt sogar persönlich auf – als enge Vertraute, der die Protagonistin nach vielen Jahren von ihren schmerzlichen Erlebnissen in Bremen berichtet.

Immer tiefer gerät die junge Frau in einen Strudel aus Vertuschung und Korruption. Als sie durch eine Zufall Einsicht in die Verhörprotokolle bekommt, unternimmt sie alles, um die Zuständigen von der Schuldunfähigkeit Gottfrieds zu überzeugen.

Jedoch hatte die Philosophie des deutschen Idealismus zwar mit dem Begriff der Persönlichkeit die Idee einer psychologischen Schuld entwickelt, Paul Johann Anselm von Feuerbach den Grundsatz "keine Strafe ohne Schuld" geprägt. Mitte des 19. Jahrhunderts, lange vor Sigmund Freuds Thesen, fand diese Theorie gleichwohl selten Einzug in Gerichtsurteile.
Umso bezeichnender die Tatsche, dass der Autor von "Gift" gerade jene Denker wie Schopenhauer und Nietzsche zu Wort kommen lässt, die in ihren Schriften wichtige Erkenntnisse der modernen Psychologie vorwegnahmen.

Schuldpsychologische Einwände stoßen in der Erzählung sowohl bei Gottfrieds Verteidiger als auch beim verständigen Senator und Untersuchungsrichter Franz Friedrich Droste auf taube Ohren. Am 21. April 1831 wird Gesche Gottfried auf dem Bremer Domhof öffentlich durch das Schwert hingerichtet.
Eine solchen Akt unplakativ darzustellen, ohne bei den LeserInnen das Empfinden einer Indiskretion hervorzurufen, verlangt einiges an Fingerspitzengefühl. Meter wählt auch hier das literarische Zitat und untermalt die Szene mit ebenjenen Worten, die auch die Exekution in Kafkas Prozess begleiten. Mit viel Gespür für die angemessene Distanz erzeugt der Autor anstelle von Sensationslust Bestürzung und Mitgefühl für die Verurteilte.

Meters Erzählung könnte ihre volle Wirkung nicht entfalten ohne die ausdrucksstarken Kohle-Zeichnungen Barbara Yelins. Ihr gelingt es, eine düstere Atmosphäre aus Furcht, Abwehr und Sensationslust heraufzubeschwören. Die Stimmungen der ProtagonistInnen finden nicht nur in der komplexen Mimik der Figuren ihren Ausdruck, sondern manifestieren sich in der Dunkelheit der Fassaden, in der Weite des wolkenverhangenen Himmels oder im trüben Schein einer Lampe. Yelin beherrscht die Kunst, durch das lebendige Spiel von Licht und Schatten Emotionen zu generieren und dabei stets den richtigen Ton zu treffen.

AVIVA-Tipp: Mit "Gift" beweisen Meter und Yelin, dass die seriöse Vermittlung geschichtlicher Ereignisse und das Medium Comic einander nicht ausschließen. Der fulminante Bildroman berichtet packend, informativ und berührend von einer historischen Person, deren Handlungen auch heutigen LeserInnen unbegreifbar bleiben. Selbst Zeitgenossen wie der zuständige Senator Droste konnten sich diesem Eindruck nicht verschließen: "Ein Weib, was Kranke pflegt, Arme speist und die doch ihre Freundinnen vergiftet; was über einem Wort von Goethe weint und ihre Kinder ermordet, die heute stiehlt, was sie morgen verschenkt und tausend andere rätselhafte Erscheinungen mehr an sich trägt. Wer kann es wagen, ihren Charakter zu schildern?" Meter und Yelin unternehmen einen eindrucksvollen Versuch.

Zu den AutorInnen:

Peer Meter
, geboren 1956 in Bremen, lebt in Worpswede. Bereits seit 1973 beschäftigt er sich immer wieder auch mit Comics. Seit 1986 arbeitet Meter als freier Schriftsteller, er hat Kurzprosa in diversen Literaturzeitschriften veröffentlicht. Darüber hinaus ist er in der freien Theaterszene tätig. Mit dem Fall Gesche Gottfried befasst er sich seit 1988. Derzeit arbeitet er mit mehreren deutschen ZeichnerInnen als Autor an Comicprojekten. So zeichnet unter anderem "Isabel Kreitz" nach einem Szenario von Peer Meter. Im März 2010 erscheint bei Edition Temmen das Sachbuch "Gesche Gottfried. Eine Bremer Tragödie".
Weitere Infos und Kontakt unter: www.peermeter.de

Barbara Yelin, geboren 1977 in München, studierte Illustration an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg. Als Comiczeichnerin ist sie vor allem in Frankreich durch die Bände Le visiteur und Le retard bekannt geworden. In deutscher Sprache sind verschiedene ihrer Kurzgeschichten in der Anthologie "Spring" erschienen, die von einem Kollektiv von Zeichnerinnen herausgegeben wird und deren Mitherausgeberin sie ist. Desweiteren ist eine Kurzgeschichte von Barbara Yelin in der Anthologie "Pomme d´amour" (Die Biblyothek) erschienen. Gift ist der erste umfangreiche Comic von Barbara Yelin. Die Zeichnerin lebt in Berlin.
Weitere Infos und Kontakt unter: www.barbarayelin.de und www.spring-art.info

Peer Meter und Barbara Yelin
Gift

Reprodukt-Verlag, erschienen September 2010
Klappbroschur, 200 Seiten
ISBN 978-3-941099-41-8
20 Euro
www.reprodukt.com

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Beitrag vom 04.02.2011

AVIVA-Redaktion