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Beitrag vom 17.12.2010
Diana Athill - Irgendwo ein Ende. Vom guten Leben im Alter
Sonja Baude
Am 21. Dezember wird Diana Athill, Grande Dame des Londoner Verlagswesens, 93 Jahre alt. Jetzt liegt ein neues Buch, das vom eigenen allmählichen Verschwinden erzählt, in deutscher Übersetzung vor.
Über fünfzig Jahre lang arbeitete Diana Athill als Lektorin im Verlag André Deutsch, wo sie Autoren wie Elias Cannetti, Mordecai Richler, Simone de Beauvoir, Jean Rhys und Philip Roth begleitete. Heute schreibt sie Buchkritiken und Kolumnen und sie schreibt vor allem über das eigene Leben. "Irgendwo ein Ende" reiht sich in ihre autobiographischen Texte der letzten zehn Jahre ein und widmet sich dem Leben im ganz hohen Alter, jenseits der 80.
Der morgendliche Blick der 89-Jährigen aus dem Schlafzimmerfenster, mit dem Athill ihr Altersbuch eröffnet, verspricht einen Sinn für die Poesie des Alltäglichen und gleichzeitige ungeschönte Selbsteinschätzung. Bei der Beobachtung kleiner junger Möpse, die freudig durch den Park rennen, wird sie sich ihres eigenen sehr fortgeschrittenen Lebens bewusst, in dem die Bewegungen sich verlangsamen und sie sich eingestehen muss, dass es für vieles zu spät ist, denn beispielsweise "das schönste am eigenen Hund ist doch, wenn man mit ihm spazieren geht, sich an seiner freudigen Erregung ergötzt [...] und an seiner Begeisterung, wenn die Leine gelöst wird und er über den Rasen flitzen kann, wobei er sich hin und wieder fröhlich nach dir umblickt, um sich zu vergewissern, dass du noch in der Nähe bist [...] So gern würde ich das mit einem kleinen Mops mit schwarzsamtigen Gesicht noch einmal erleben – doch nein! Es geht nicht." Sie weiß um die Unmöglichkeit einer gemeinsamen Zukunft. Und noch etwas anderes wird ihr an diesem Morgen bewusst, was nicht mehr geht, ein kleines Baumfarnpflänzchen beim Wachsen zu beobachten und es eines Tages als ausgewachsenen Baum vor der Tür stehen zu sehen. Ja, das ist ein klarer und wahrer Blick auf die eigene Endlichkeit.
Und weiter? Der Eindruck, der bleibt, nach 200 Seiten, die man mit Athill in ihrer Lebenswelt verbracht hat, ist Unschärfe. Athill erstellt eine Art Gedächtnischronik, frei von Sentimentalität, darin liegt eine Qualität, aber gleichzeitig mag es ihr nicht so recht gelingen, die LeserInnen mit auf den Weg zu nehmen, uns im Erzählen auf eine Erinnerungsspur zu führen und damit etwas, über die einzelnen Begebenheiten hinaus, verstehbar zu machen. So durchwandert die Autorin ihre Vergangenheit zumeist allein, ohne uns an diesem Streifzug teilhaben zu lassen. Wie Stationen einer Bahnstrecke werden Begebenheiten aufgerufen: die erste vorsexuelle tagträumerische Liebe im Alter von fünf Jahren, dann noch eine. Namen tauchen auf, dann die erste Liebe "als Erwachsene" mit 15, die über viele Jahrzehnte nachhaltig bleiben sollte, so steht es geschrieben. Sie erzählt vom Beinaheverlust ihrer sexuellen Aktivität im Alter von sechzig, die dann noch einmal dank ihres letzten Liebhabers Sam um sieben Jahre verlängert wurde, wobei die beiden nicht nur sexuelle Lust, sondern auch schmerzende Füße verband. Das lässt schmunzeln, von durchdringendem Witz ist es nicht.
Malen, Pflanzen und Schreiben, das sind die Beschäftigungen, die Athill in der letzten Lebensdekade voll in Anspruch genommen haben, "so dass man wird, was man tut, und eine wunderbare Erholung von der Beschäftigung mit sich selbst bekommt." An einer Stelle wie dieser wird das Buch fast eine Art tröstlicher Ratgeber, wenn auch nicht im Erzählen, so in der Behauptung und man ist geneigt, ihr Glauben zu schenken, weil sie diese mit Überzeugung vorträgt. Aber doch fehlt – worauf man nach den ersten Buchseiten hoffte – ein tieferer Blick oder eine Imaginationskraft, die es vermögen könnte, mit Alltäglichem zu berühren. Vielleicht gelingt das am Besten, wenn Athill noch als Achtzigjährige einen Quell der Freude ausmacht: den Rausch der Geschwindigkeit, das Autofahren, das sie so bald sicher nicht aufgeben wird, denn manchmal lässt es sogar die Zeit und die Einschränkungen des Alters vergessen, weil "wie alle anderen flitzt du los, dir wurde die Freiheit, dir wurde (beinahe) die Jugend wiedergegeben."
Der Jugendrausch aber währt nur Augenblicke, denn so oder so bedeutet das Alter Pflege: Wenn man ihrer nicht selbst bedürftig wird, so sind es andere, nahestehende Menschen, die man im Alter unterstützend begleitet, die eigene Mutter, den langjährigen Lebenspartner. Athill beschönigt hier nichts und gibt zu, dass sowohl Trauer als auch Langeweile ins Lebensgefühl einziehen. Gleichwohl lässt sie sich nicht darin beirren, Gelassenheit und Disziplin zu bewahren, sich an den Lebensläufen jüngerer Menschen zu erfreuen und nicht Angst und Qual oder gar einer Trotzhaltung Platz einzuräumen, wobei sie weiß, dass dies ein Privileg guter gesundheitlicher Konstitution ist.
Die schönste Entdeckung im Alter sei diejenige gewesen, dass sie schreiben könne. Diana Athill begreift Schreiben als heilsames Unternehmen, man könnte sagen, als therapeutische Übung, Wunden vergangener Erfahrungen zu heilen. Gleichzeitig sagt sie, je älter sie wurde, desto weniger interessierten sie Romane und menschliche Beziehungen, stattdessen Sachbücher: "ich will noch immer mit Fakten gefüttert, mit Material versorgt werden." Und vielleicht liegt in dieser Aussage ein möglicher Zugang zu "Irgendwo ein Ende". Vielleicht lässt sich darin eine vorgeschlagene Lesart für ihr eigenes Buch erkennen. Sollte man es in diesem Sinne als Sachbuch begreifen, eine Quellensammlung aus 90 Jahren Leben, voll von Informationen, die erst durch die Imagination ihrer Leserschaft mit neuem Leben gefüllt werden?
AVIVA-Fazit: Liebe und Treue, Religion und Glauben, Sterben und Tod, all die großen Themen, die bei Diana Athill vor dem Ende noch einmal zur Sprache kommen, sind verwoben mit Begebenheiten aus dem eigenen Leben. Ihr eigener Anspruch auf Wahrhaftigkeit mündet dabei häufig in eher äußerliche Beschreibungen, die nur selten Geheimnisse in sich bergen. So beschreitet sie ihre Lebenswege zumeist allein und hält ihre LeserInnen auf Distanz. Die Ehrlichkeit aber, mit der sie den Blick auf das eigene Verschwinden richtet, ist mutig, selten wehmütig und bezeugt große Lebenskraft.
Zur Autorin: Diana Athill, 1917 geboren, gründete gemeinsam mit André Deutsch 1952 den gleichnamigen Londoner Verlag, eines der berühmtesten Verlagshäuser der Nachkriegszeit, dessen Cheflektorin sie fünfzig Jahre lang war. Erst in hohem Alter machte sie sich selbst einen Namen als Autorin. Für das vorliegende Buch "Somewhere Towards The End" wurde sie 2009 mit dem Costa Book Award ausgezeichnet.
Diana Athill
Irgendwo ein Ende. Vom guten Leben im Alter
Originaltitel: Somewhere Towards The End
Aus dem Englischen von Reinhild Böhnke
Ullstein-Verlag, erschienen Oktober 2010
254 Seiten
ISBN 978-3-550-08838-4
18 Euro