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Beitrag vom 17.12.2010
Frédérique Deghelt - Frühstück mit Proust
Kristina Tencic
Eine alte, eine junge Frau und die Literatur. Mit großer Hingabe zu allen dreien erzählt Deghelt die Geschichte einer einfachen Bäuerin, deren ganze Leidenschaft ihren heimlichen Liebhabern galt,...
... nämlich den Büchern, die sie versteckt während der Hausarbeit verschlang.
Es scheint, als brauche diese Leserin die Literatur mehr als die Luft zum Atmen:
"Im Leben mag man sich damit begnügen, nur die Gischt zu sehen, ohne je in die Tiefe hinabzutauchen, die die Wogen an der Oberfläche hervorbringen: Ein richtiges Buch aber lässt einem keine Wahl: Er ist in einem Zuge das Schwimmen an der Oberfläche, das Hinabtauchen in große Tiefen, es ist Schatten und Licht im Wechsel, bis zur Atemlosigkeit."
Als einfache Frau vom Land gab es zu ihrer Zeit nicht viel außer dem Haushalt, dem Hof und der Erziehung ihrer eigenen und fremden Kinder. Es war nicht gut angesehen, wenn frau sich mit der Bildung ihres Geistes beschäftigte, dies sei etwas für Müßiggänger, für Reiche. Doch wie sich nach und nach im Gespräch mit ihrer Enkelin Jade herausstellt, die ihre geliebte "Mamoune" vor dem Altersheim und ihren Tanten rettet, indem sie sie zu sich nach Paris holt, ist ihre Großmutter zu ihrer Überraschung eine sehr belesene Frau.
Geschützt vor den Blicken ihres Mannes und der Dorfgemeinschaft sammelte Mamoune die "Krümel" großer Werke in ihrem Haushaltsbuch und hüllte die Romane der Weltliteratur in einen Lederband mit dem nicht weiter Aufmerksamkeit erregenden Wort "Bibel" auf dessen Rücken.
Indem sie dies ihrer Enkelin eröffnet, einer Journalistin, die ihrerseits um die Veröffentlichung ihres ersten Romanmanuskripts kämpft, werden die beiden zu Gefährtinnen und hecken einen Plan aus: Mamoune soll einen Verleger finden und als erfahrene Leserin den Roman lektorieren.
In Frédérique Deghelts "Frühstück mit Proust" treffen zwei Generationen aufeinander und offenbaren einerseits deren Kluft, die sich im Zeitalter des Internets und der schnelllebigen Metropolen auftut. Andererseits jedoch zeigt sie auch deren Potential zueinanderzufinden und sich über einem zeitlosen Wert, der Literatur, zu begegnen. Die Gefahren des Alters werfen dabei unleugbar einen gewissen Schleier des Unheils auf ihr gemeinsames Leben, jedoch auch einen Moment der Vergänglichkeit, der beide dazu ermutigt, das (verbleibende) Leben zu genießen.
Einziger Malus sind die inneren Monologe der Mamoune, die anfangs etwas fehl am Platze erscheinen und sich nur langsam zu lesenswerten Zeilen verwandeln. Doch die vielen wunderschönen Bekenntnisse und Liebesworte an die großen Wunder der Literatur, die Deghelt der betagten Dame in den Mund legt, machen dies sobald wett.
"Ich weiß noch, wie sehr mich das Wunder faszinierte, dass die guten Bücher immer genau im richtigen Moment kamen. Dass sie manchmal aus dem Regal fielen, um auf die Fragen zu antworten, die das Leben mir stellte. So fand ich zu einer Zeit, in der ich verzweifelt wäre, die Gelassenheit wieder, genoss die Tugenden der erträumten Liebe, überließ das Reisen anderen, sortierte Mord in die Abteilung des Unmöglichen. Ich habe alles erlebt, ich bin tausend Jahre alt, und das verdanke ich den Büchern."
AVIVA-Tipp: Der Roman, dessen Original schlicht den Titel "La grand-mère de Jade" trägt, versteht es, die leidenschaftliche Lesegier zu wecken, musilhaft anmutende Sinnfragen zu stellen und die verborgene Literaturliebhaberin in uns allen wieder einmal hervorzuholen. Ein echter Schatz der Wörter.
Zur Autorin: Frédérique Deghelt ist Journalistin und Fernsehregisseurin sowie leidenschaftliche Weltreisende. Ihr Roman "Die Liebe der anderen" erschien 2008. Wenn sie nicht unterwegs ist, lebt sie in Paris. (Quelle: Aufbau Verlag)
Frédérique Deghelt
Frühstück mit Proust
Originaltitel: La Grand-mère de Jade
Aus dem Französischen von: Anja Nattefort
Aufbau Verlag, erschienen 2010
Gebunden, 288 Seiten
ISBN: 978-3-352-00792-7
16,95 Euro
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