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Beitrag vom 30.05.2011
Véronique Olmi - Die erste Liebe
Evelyn Gaida
Einen Roman so zu betiteln, ist mutig. Zwar ist einem Buch mit diesem Titel die Aufmerksamkeit der LeserInnen sicher, es erzeugt aber auch einen hohen Anspruch. Wer kann sie in Worte fassen, die ...
... erste Liebe?
Véronique Olmi beginnt ihren Roman mit dem Außer-Kraft-Setzen der Zeit, als gäbe es nichts Selbstverständlicheres. Eine 48-jährige Frau bereitet das romantische Dinner zur Feier ihrer Silberhochzeit vor, doch es kommt völlig anders. Der Wein ist in Zeitungspapier gewickelt, darauf entdeckt sie eine Anzeige: "`Emilie, Aix 1976. Komm so schnell wie möglich zu mir nach Genua. Dario.´" Ihre Reaktion: "Ich habe nichts gedacht. Ich habe mir keine Fragen gestellt. Ich habe mich wie von selbst bewegt. Ich habe den Herd ausgestellt. Ich habe die Kerzen ausgepustet. (…) Ich habe meine Autoschlüssel genommen. Meine Tasche. Mein Mobiltelefon vergessen. Und bin hinausgegangen."
Die Vorwürfe `unglaubwürdig´ und `kitschig´ sind vorprogrammiert. Tatsächlich gelingt es der Autorin jedoch, die Logik des Alltags, des Bekannten und Gewohnten von einem Moment zum anderen sprachlich auszuschalten. Wie eine plötzlich ausbrechende Trance wird ein Ausnahmezustand darüber verhängt, ein Trigger ausgelöst, der jederzeit übergangslos aktiviert werden kann, als wäre in der Zwischenzeit nichts geschehen. Ehrlicher und tiefgreifender wäre es sicherlich gewesen, all das darzustellen, was ein derartig filmreifes Handeln nicht simpel, sondern unmöglich macht, einen schmerzvollen Weg, der erst gefunden werden muss. Dennoch wirkt Emilies Verhalten glaubhaft, weil ihre Motivation unabweisbar ist. Die Autorin scheint die Vielschichtigkeit der Handlung und Charaktere hier bewusst zu reduzieren, zugunsten eines Spiels mit Kategorien des "Glaubwürdigen", "Nachvollziehbaren" oder der "Liebe".
Dann wäre da noch die Kategorie `Silberhochzeit´. Emilies Planung könnte aus jedem x-beliebigen Lifestyle- oder Frauenmagazin entnommen sein, sämtliche abgeschmackten Klischee-Requisiten werden als Massenware, als leblose Platzhalter eines Gefühls aufgeboten. Das Candlelight Dinner, der Wein, die schmorende Lammschulter, auch die Dessous und die Satin-Bettwäsche "made in Shanghai" für den Nachtisch dürfen nicht fehlen. Gleichzeitig rupft Olmi solchen Plastikblumen nach Kräften die Blätter aus. Das Budget reicht nur für die billige Bettwäschen-Variante, hervorgezerrt aus verblichenen Stapeln in einem verstaubten Laden. Die Laken "würden wahrscheinlich ausreißen, sobald einer von uns vergessen hätte, sich in den letzten achtundvierzig Stunden die Zehennägel zu schneiden." Romantik pur. Über dieses hinkende Rezeptheft-Szenario lässt die Autorin also etwas hereinbrechen, das aus einer anderen Galaxie zu stammen scheint.
Was folgt, ist ein verspäteter Selbstfindungsroadtrip ins Ungewisse, eine Reise in die Vergangenheit. Gegenwärtige Erlebnisse, Lebensbilanz und Flashbacks aus einer provinziellen französischen Jugend in den 70er Jahren wechseln sich schlaglichtartig ab, reizen beständig zum Weiterlesen. Olmi vermeidet standhaft das eigene Abdriften in eine vorhersehbare Handlungsfolge. Die Ambivalenz zwischen klischeehaftem Lebensentwurf und erster Liebe als Gegenbild greift jedoch auch auf den – selbst sehr zweischneidigen – Roman über. Eindringlich werden Szenen aus der Erinnerung heraufbeschworen: Emilies enge, teils beklemmende Beziehung zur älteren Schwester Christine, die ein Chromosom "zu viel" hat, und die angenehm sparsam erzählten Begegnungen mit Dario als Teenager. Ebenso stark das Wiedersehen mit Christine in ihrem Wohnheim nach vielen Jahren. Der Roman enthält Beobachtungen, Beschreibungen, Erkenntnisse, die innehalten lassen und durch bestechende sprachliche Schönheit fesseln.
Auf der anderen Seite stehen bemüht bedeutungsschwangere Zufallsbekanntschaften und Streiflichter der Reise, die über sauerstoffarme Lückenfüller nicht hinauskommen. Abgesehen von den lebendig aufflackernden Szenen und Gedanken bleibt der Roman insgesamt der Oberfläche und Momentaufnahme verhaftet, bleiben auch die Charaktere Abbilder, denen es an Tiefe und Originalität fehlt. Zu sehr sind sie den Klischees verpflichtet, die sie nur augenscheinlich zu überwinden suchen. Ein bisschen "La Boum" hier, ein bisschen engstirniger Katholizismus da, dann die StudentInnenzeit mit den üblichen nichtssagenden Affären, schließlich die annehmbare Ehe.
Dario ist der Inbegriff der Projektion: blond gelockt, schön, reich, vom Leben umschmeichelt. Ein tändelnder Italiener, der von allen Mädchen begehrt wird und allen zu Diensten steht, freundlich und unverbindlich. Sein Blick "von fast abwesendem Blau. Ein Blick, der deutlich kundtat, dass er nicht da war. Überhaupt nicht da. Aber wo war er dann, während er beflissen mit allen flirtete, die sich ihm anboten?" Dario bewegt sich anmutig auf den schönen Oberflächen des Lebens dahin, ist die Entrückung in Person. So läuft die Geschichte am Ende auch auf eine detektivische Fahndungsepisode à la Donna Leon vor pittoresker Kulisse hinaus. Die Romantikverweigerung wird aufrechterhalten, doch die Handlung verdünnt sich zunehmend in die kurzweilige Unterhaltung, fadenscheinig bedeutungsvoll. Was bleibt, ist ein halbherziger Roman über die erste Liebe als Projektionsfläche. Eines kann Liebe jedoch niemals sein, sofern sie ihre Bezeichnung verdient: halbherzig.
AVIVA-Tipp: Dieser Roman wird seinem Titel nicht gerecht. Eindringlich evozierte Lebenserfahrungen, Erinnerungen und Momente sprachlicher Schönheit wechseln sich mit oberflächlicher Kurzweil im bedeutungsschwangeren Kleidchen ab. Das Changieren zwischen fluchtartigem Selbstfindungsroadtrip, Lebensbilanz und Reise in die Vergangenheit hält die Spannung jedoch geschickt aufrecht, ein vorhersehbares Ende wird hartnäckig vermieden.
Zur Autorin: Veronique Olmi wurde 1962 in Nizza geboren und lebt heute mit ihren zwei Kindern in Paris. In Frankreich wurde sie, als eine der bekanntesten Dramatikerinnen des Landes, für ihre Arbeit mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Seit 1990 hat die ausgebildete Schauspielerin zwölf Theaterstücke verfasst, am Anfang stand sie bei deren Aufführung auch selbst auf der Bühne und/oder führte Regie. Ihre Theaterstücke wurden in viele Sprachen übersetzt, einige Stücke liegen auch in deutscher Übersetzung vor (bei Suhrkamp) und wurden und werden in Deutschland, Österreich und der Schweiz aufgeführt. Ihr neuer Roman "Die erste Liebe" stand monatelang auf den französischen Bestsellerlisten. (Quelle: Verlag Antje Kunstmann)
Véronique Olmi
Die erste Liebe
Originaltitel: Le premier amour
Ãœbersetzerin: Claudia Steinitz
Verlag Antje Kunstmann, erschienen: 28. Februar 2011
Hardcover, 288 Seiten
ISBN: 978-3888977022
19,90 Euro
Weitere Informationen finden Sie unter:
www.kunstmann.de
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