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Beitrag vom 26.11.2010
Sofja Tolstaja - Ein Leben an der Seite Tolstojs
Jana Muschick
Ursula Keller und Natalja Sharandak beschreiben in ihrem fundierten Sachbuch das Leben einer Frau, die sich selbst vergessen musste, um an der Seite von Leo Tolstoj überleben zu können.
Eine Frau für alle Fälle
Sofja Andrejewna Tolstoj war vieles in ihrem Leben: Ehefrau des berühmtesten russischen Dichters Lew Nikolajewitsch Graf Tolstoi, Verwalterin seines Vermögens, Sekretärin und Lektorin seiner größten Werke "Krieg und Frieden" (1868) und "Anna Karenina" (1877), sowie Mutter seiner 16 Kinder. Nur als eines hat man sie nicht erkannt: als kreative und gebildete Frau, die sich gern selbst verwirklicht hätte, doch an der Seite des "großen" Lew Tolstoj keine Chance dazu bekam.
Beste Voraussetzungen für ein kreatives Leben
Die gebürtige Sofja Andrejewna Behrs wuchs in einem gutbürgerlichen Elternhaus auf. Ihr Vater war Arzt im Kreml und so war es Sofja möglich, zu Beginn der 60er Jahre des 19. Jahrhunderts die Prüfung zur Hauslehrerin abzulegen.
Ohne Geheimnisse in die Ehe
Als sie 18 Jahre alt war, machte ihr Leo Tolstoj einen Heiratsantrag. Um ohne Geheimnisse in die Ehe zu gehen, gab er ihr sein Tagebuch, in dem die vielen Affären, unerwiderten Lieben und die Ausmaße seiner Spielsucht bis ins kleinste Detail dokumentiert waren. Sofja Tolstaja war schockiert, aber auch überwältigt von der radikalen Ehrlichkeit ihres zukünftigen Mannes. Sie willigte in die Hochzeit ein und heiratete Leo Tolstoj am 23. September 1862 – eine Woche nach dem Heiratsantrag.
Die Kompromisslosigkeit, mit der Tolstoj sein Leben lebte, sollte Tolstaja in den kommenden 50 Ehejahren stark zu spüren bekommen. Tolstoj machte immer wieder vom "Eherecht" Gebrauch, sodass seine um viele Jahre jüngere Frau neben Geburten, Stillen und der Sorge um die Kinder, um den Haushalt und den Ehemann nur nachts dazu kam, sich eigenen Gedanken zu widmen – wenn sie nicht gerade "Krieg und Frieden" oder "Anna Karenina" Korrektur las. Zeitweise schlief sie nur drei Stunden am Tag, um all das zu bewältigen. Lobende Worte oder ein offenes Ohr für ihre Sorgen und Nöte kannte sie nicht.
Emotionen nur auf dem Papier
Allein in den Tagebüchern von Leo Tolstoj und Sofja Tolstaja sind die Emotionen beschrieben, die unter den Eheleuten immer wieder zu Leidenschaft und großen Streitereien führten. Beide lasen Zeit ihres Lebens die Tagebücher des anderen – und waren so direkter über die Gewissensnöte, Wutanfälle und Liebeserklärungen des jeweils anderen informiert. Es scheint fast, als hätte ein zärtlicher Austausch der beiden nur auf diesen Blättern stattgefunden.
Das Werk Russland zum Geschenk
Als Tolstojs Erfolg als Schriftsteller auf seinem Höhepunkt angelangt war, entschied er sich selbst für den Faux Pas seines Lebens: er vermachte die Rechte an seinem Werk dem russischen Volk – und hinterließ so weder seiner Kinderschar noch seiner sich stets engagierenden Frau etwas von dem finanziellen Rückhalt, für den besonders Tolstaja gearbeitet hatte, indem sie ihm immer den Rücken freihielt (hier auch: sein Werk/ihre Arbeit).
Ein Abschied ohne Worte
Als Tolstoj nach einem heftigen Streit das eheliche Anwesen in Jasnaja Poljana im Jahre 1910 verließ, folgte Sofja ihm durch ganz Russland, und wurde – als sich der mittlerweile 82-Jährige eine gefährliche Lungenentzündung zuzog –, erst in den letzten Sekunden an sein Sterbebett vorgelassen. Als sie noch einmal mit ihrem Mann sprechen wollte, lag dieser bereits im Delirium – ein letztes Wort blieb den Eheleuten versagt… So endete die große, aber auch tragische Ehe des Paares Tolstoj.
AVIVA-Tipp: Durch unzählige Tagebuch- und Briefauszüge, die Keller und Sharandak in den russischen und europäischen Archiven zusammengesucht haben, wird das bewegende Leben der Schriftstellergattin erzählt. Ihre Gefühle und Gedanken, aber auch die Erlebnisse mit Tolstoj und den Kindern lesen sich in dem belletristisch gehaltenen Sachbuch besser, als manch ein Roman. Es ist faszinierend zu lesen, wie Müdigkeit, Schmerz aber auch Stolz und Leidenschaft Sofja Tolstajas Leben bis zu ihrem 75. Lebensjahr begleitet haben. Eine Hommage an eine großartige Frau.
Zu den Autorinnen:
Natalja Sharandak geboren in Kiew, Studium der Kunstgeschichte an der Akademie der Künste in Leningrad, wissenschaftliche Mitarbeiterin in der St. Petersburger Eremitage. Zahlreiche Veröffentlichungen, vor allem zur Situation russischer Künstlerinnen in Geschichte und Gegenwart. Lebt seit 1992 als Autorin und Regisseurin in Berlin. (Quelle: AVIVA-Verlag)
Ursula Keller hat Slavistik und Germanistik studiert und hielt sich durch ihre zahlreichen Forschungen sehr oft in Russland auf. Sie lebt als freie Autorin und Ãœbersetzerin in Berlin.
Ursula Keller, Natalja Sharandak
Sofja Tolstaja – ein Leben an der Seite Tolstojs
Insel Taschenbuch, erschienen September 2010
Taschenbuch, 362 Seiten
ISBN-13: 978-3-458-35345-4
12,00 Euro