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Beitrag vom 13.10.2010
Silvia Tennenbaum - Rachel, die Frau des Rabbis
Susanne Alge
Mit Witz, Charme und spitzer Feder schildert die am 27. Juni 2016 verstorbene Autorin in ihrem autobiografisch gefärbten Roman das Leben einer Rebbezin im Vorstadt-Gürtel um New York. In den USA avancierte das Werk vor ...
... dreißig Jahren schnell zum Bestseller.
Es erzählt von Rachels Kampf und Bemühungen um ein eigenes und eigenständiges Leben, vor allem um das Fortsetzen ihrer abgebrochenen Karriere als Malerin. Seit zwanzig Jahren ist sie mit Seymour Sonnshein verheiratet, der ihre Unabhängigkeit nicht besonders fördert, aber immerhin akzeptiert, ganz im Gegensatz zum Großteil seiner mehrheitlich orthodoxen Gemeinde, die sehr genaue Vorstellungen von dem hat, was sich für eine "ordentliche" Rebbezin gehört, welche Kaffeekränzchen sie nicht versäumen darf und wo sie überhaupt "ordentlich" gekleidet auftauchen muss. Diese Intrigen bringen das Leben der Familie Sonnshein samt Sohn Aaron, der zu allem Überfluss an seinem ersten Liebeskummer leidet, durcheinander, bis an den Rand einer bedrohlichen Krise sogar.
Der Roman bezieht viel seiner Qualität aus dem oberflächlich lapidar erscheinenden Ton, hinter dem sich Genauigkeit und Tiefgang verbergen, auch aus den rasanten Dialogen, die Stoff für weitere Romane böten. Allein der Schlagabtausch, der bei familiären wie gesellschaftlich feiertäglichen Zusammenkünften freundlich lächelnd, doch die Zähne zeigend, stattfindet, vergrößert das ohnehin beträchtliche Lesevergnügen.
Ãœber den Empfang durch Mutter Betty und Donella, Hausangestellte seit Rachels Kindheit, lautet deren Kommentar bei einem Besuch im Elternhaus ob des ewig gleichen und etwas nervigen Rituals: "Alles war wie immer. Gott sei Dank."
Denn Rachel durchschaut ihre ambivalenten Gefühle gut. So sehr sie es manchmal genießt, in die Rolle der Verhätschelten zurückfallen zu können, beobachtet sie sich selbst ihrem heranwachsenden Sohn gegenüber ab und zu bei demselben Verhalten. Der Roman bleibt aber nicht bei der individuellen Emanzipation Rachels stehen. Prozesse, die Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre gesamtgesellschaftliche Umbrüche ankündigten, geraten ebenso ins Visier und bilden – wie es der Realität entsprach – wichtige Basis für das Geschehen. Dazu gehört auch der unbekümmerte, lustvolle Umgang mit der Sexualität, sei es im Erinnern beim Wiedersehen eines verflossenen Liebhabers, sei es im Beherrschen einer elegant-erotischen Sprache bei der Schilderung aktueller Affären, aber ebenso in der leidenschaftlichen Wut bei der Vorstellung von Begegnungen des Gatten Seymour mit Natalie Gould, einer der den Rabbi anhimmelnden Vertreterinnen aus dessen Gemeinde.
Hervorragend übersetzt von Claudia Campisi kommt der filmreife Furor solcher Szenen noch besser zur Geltung.
Zur Autorin: Silvia Tennenbaum, geboren 1928 in Frankfurt am Main, 1938 Flucht und Emigration in die USA, studierte Kunstgeschichte an der Columbia University, war als Kunstkritikerin tätig, über 35 Jahre mit einem Rabbiner verheiratet. 1978 feierte sie mit dem autobiografisch gefärbten Roman "Rachel, the Rabbi´s wife" den ersten großen Erfolg. Diesem folgte 1981 "Yesterday´s Streets". Der Roman um eine Frankfurter jüdische Familie erschien 1983 unter dem Titel "Straßen von gestern" in deutscher Übersetzung und wurde 2012 wieder neu aufgelegt. Tennenbaum lebte auf Long Island, hielt sich jedoch seit 1983 regelmäßig in Deutschland auf. Im Frühjahr 2012 wurde ihr die Goethe-Plakette des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst verliehen. Am 27. Juni 2016 starb Silvia Tennenbaum in Haverford, Pennsylvania. (Quelle: Verlagsinformation)
AVIVA-Tipp: Ironie und Witz tragen sowohl zu großem Lesevergnügen als auch zu manchem Blick auf das eigene Verhalten bei, dienen aber nie zum scheinheiligen Augenzwickern, es sei doch alles halb so schlimm.
Silvia Tennenbaum
Rachel, die Frau des Rabbis
Ãœbersetzt von Claudia Campisi
Gebunden, 457 Seiten, mit Lesebändchen
AvivA Verlag, erschienen September 2010
ISBN 978-3-932338-45-8
1. Auflage
24,80 Euro
www.aviva-verlag.de