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AVIVA-BERLIN.de im Mai 2024 - Beitrag vom 28.09.2010


Samanta Schweblin - Die Wahrheit über die Zukunft
Ute Vetter

Wenn Verkehrtes auffällig normal wirkt, Absurdes mit dem Hauch des Morbiden verknüpft ist und der Schauer des Schreckens irritierend vergnügt, dann sind Erzählungen unzweifelhaft gelungen.




Haben Sie schon mal eine Hausmilbe umgebracht, eine Ameise zerquetscht oder ein Salatblatt gedankenlos zerstückelt? In dem Erzählband "Die Wahrheit über die Zukunft" treibt Samanta Schweblin die Phantasie der Lesenden radikal bis zur Imagination des Absurden.

Schon ihre Titel "Einen Hund töten", "Köpfe gegen den Asphalt", "Der Mund voller Vögel" oder "Die Raserei der Pest" weisen auf eigenwillig brutale Handlungen oder Aktivitäten hin. In einer Geschichte erzählt die Autorin von einem Mädchen, das Nahrung verweigert, sich nur noch von lebenden Vögeln ernährt, in einer anderen von Kindern eines Dorfes, die plötzlich über Nacht verschwinden oder von Toten, die den Weg zum Kühlschrank versperren.

In diesem Erzählband wird Unwirkliches für einen Augenblick Realität. Immer sind Momente, in denen alles "normal" zu sein scheint und in denen nichts Aufregendes zu erwarten ist, an eine aufblitzende Erkenntnis, ein unsichtbar erschreckendes Wissen gekoppelt:

Eine Wahrheit, die erkannt, aber auf Dauer nicht auszuhalten ist.
Eine Frage, die sich eigentlich nicht stellt, weil sie unbeantwortet bleiben muss.
Ein Geschehen, das scheinbar nicht stattgefunden hat.
Eine Idee, die über den Alltag keinen Gestalt bekommen wird.

Am Beginn einer jeden Erzählung steht jedoch immer eine scheinbar beruhigende reale Situation, die sich rasch und natürlich verändert, unmerklich ins Unwirkliche gleitet:

"Ich hatte mächtigen Durst, langsam wurde mir schon schwindlig. Die Raststätte, an der wir hielten, war leer. Ein Lokal, so groß wie alles auf dem Land, die Tische voller Krümel und Flaschen, als hätte gerade ein ganzes Regiment dort zu Mittag gegessen und niemand hätte Zeit zum Saubermachen gehabt. Wir setzten uns an einen Tisch am Fenster, schräg unter einen kreisenden Ventilator, von dem man allerdings nichts merkte. […] Ein Mann trat hinter einem Plastikvorhang hervor. Er war winzig klein. […] Er verschwand in der Küche, hin und wieder tauchte sein Kopf in der Durchreiche hinter der Theke auf. Ich sah Oliver an, er grinste, ich hatte zu großen Durst, um zu grinsen. Es verging eine ganze Weile, wesentlich mehr Zeit als man brauchte, um zwei kalte Flaschen aus dem Kühlschrank zu nehmen und an einen Tisch zu bringen. Endlich erschien der Mann wieder. Er brachte uns nichts, nicht einmal ein Glas.…" (S. 100)

Das schmale und handliche Buch ist eine Zusammenstellung vierzehn kurzer Erzählungen, die es wirklich in sich haben. Samanta Schweblins Stil zeichnet sich durch kurze Sätze, einen sachlichen Ton, ein spartanisches Szenarium und eine schnelles überraschendes Ende aus. Raum und Zeit sind offen definiert. Das Geschehen könnte sich überall auf unserem Planeten ereignen und erschließt sich als ganz normal und folgerichtig.

Die Autorin kreiert stark nachhaltige Bilder, die sich für Tage in das Gedächtnis der LeserIn brennen. Jede Geschichte fixiert einen intensiven Gedanken, ein irrational flüchtiges Erlebnis und ist aufregend anregend.

AVIVA-Tipp: Der Erzählband der argentinischen Autorin Samanta Schweblin bietet eine Kostprobe moderner lateinamerikanischer Erzählkunst. Intensive eindringliche Bilder steigen auf und es bleibt eine leise kribbelnde Irritation. Unbedingt zu empfehlen für Leserinnen und Leser mit wenig Zeit, die etwas Delikates in extrem kurzen und stark verdichteten Sequenzen genießen wollen. Das Phantastisch-Skurrile bedarf eines längeren Moments der Verdauung.

Zur Autorin: Samanta Schweblin 1978 in Buenos Aires geboren, hat Filmwissenschaften studiert und gründete im Jahr 2000 im Wohnzimmer ihrer Eltern eine Agentur für Webdesign. Ihre ersten beiden Erzählungsbände, "El nucleo del disturbio" und "Pájaros en la boca" sind mehrfach preisgekrönt und nicht nur in Lateinamerika bekannt. 2008 nutzte sie ein Stipendium in Oaxaca, Mexiko, um zu schreiben und gewann im selben Jahr einen Preis für ihren zweiten Erzählband, der uns hier übersetzt vorliegt. Ihre Erzählungen wurden ins Englische, Französische und Schwedische übersetzt.
Weitere Informationen und Kontakt:
www.samantaschweblin.com
(Quellen: Samanta Schweblin und Suhrkamp Verlag)


Samanta Schweblin
Die Wahrheit über die Zukunft

Originalausgabe 2009, Pájaros en la boca, Emecé Editores, Buenos Aires
Aus dem Spanischen von Angelica Ammar
Suhrkamp Verlag, Berlin, erschienen 15.03.2010
Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 112 Seiten
ISBN-13 9783518421420
Gebunden, 130 Seiten
19,80 Euro



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Beitrag vom 28.09.2010

AVIVA-Redaktion