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Beitrag vom 18.08.2010
Lilian R. Furst und Desider Furst - Daheim ist anderswo. Ein jüdisches Schicksal. Erinnert von Vater und Tochter
Evelyn Gaida
Wie sah der Tag aus, an dem 1938 die Nazis in Wien einmarschierten? Und wie fühlt es sich an, von einem Tag auf den anderen total entrechtet zu werden? Lilian und Desider Furst erstatten ...
... sachlich, sparsam und zurückhaltend Bericht über die Katastrophe. Was entsteht, ist ein tief berührendes persönliches Zeugnis. Aus dem Geschriebenen spricht das ständige Bemühen, keine einzige Erfahrung der Redlichkeit und Hilfsbereitschaft auszusparen. Das Verstörende, die erschütternden Verletzungen und Enttäuschungen werden benannt, ohne sich darin zu vertiefen.
`Heute´
Auch am Tag des Nazi-Einmarsches in Wien stand die Natur, wie so oft, in einer bizarren Diskrepanz zur Bedeutung des Geschehens. Obwohl der März in der österreichischen Hauptstadt "gewöhnlich kalt, grau und unwirtlich" ist, war der Himmel von einem intensiven, strahlenden Blau. Die sechsjährige Lilian Furst blieb am Fenster ausnahmsweise sich selbst überlassen, da alle mit etwas anderem beschäftigt waren. "Der Gegensatz zwischen dem Jubelgeschrei auf der Straße und der Stille im Haus war überwältigend." Historie wird in der Erinnerung zu einem erlebten `Heute´, das Unbegreifliche bemächtigt sich des Alltäglichen. Bürgerliche Normalität wird vergegenwärtigt, über die das Nazi-Regime fatal hereinbricht. Nichts sollte danach mehr so sein, wie es gewesen war.
Zweifache Perspektive
Das Erzählen derselben Ereignisse aus zwei verschiedenen, unabhängig voneinander geschilderten Perspektiven mutet wie ein literarisches Experiment an. Die Literaturwissenschaftlerin Lilian R. Furst erinnert sich als erwachsene Frau an prägende und traumatische Kindheitserlebnisse, ihr Vater blickt als Rentner auf sein Leben zurück. Die Überschneidungen des Erzählten und seine episodisch ineinandergreifende Abfolge erzeugen einen fesselnden Spannungsbogen. Hochinteressant ist ebenfalls zu verfolgen, wie einigen identischen Begebenheiten von der Tochter ein größeres emotionales Gewicht beigemessen wird, als vom Vater, der sie eher beiläufig erwähnt. Das Buch ist auch ein faszinierendes Dokument der Verschiedenheit menschlicher Wahrnehmung und Verarbeitung, insbesondere der kindlichen im Vergleich zur erwachsenen.
Dramatische Herabsetzung
Desider Furst aus Ungarn und seine Frau Sarah, Migrantin aus Galizien an der polnisch-russischen Grenze, hatten sich ihren Wohlstand und ihre gemeinsame Zahnarztpraxis aus Armut und Not heraus hart erarbeitet. Die Jahre zwischen 1928 und 1938 bezeichneten sie als die glücklichsten ihres Lebens. Auf den Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich im April 1938 ("Es erübrigt sich zu sagen, dass die Zustimmung bei annähernd 100 Prozent lag.") folgte die dramatische Herabsetzung: Berufsverbot, extreme gesellschaftliche Ausgrenzung – Theater, Opern, Kaffeehäuser oder die allgemeine Volksschule durften von Jüdinnen und Juden nicht mehr besucht werden – antisemitische Hetze, Angst, Plünderungen jüdischer Besitztümer, Terror und Massenverhaftungen waren an der Tagesordnung. "Wir waren in jeder Hinsicht vogelfrei." In der "Kristallnacht" entging die Familie durch einen Umzug nur knapp den Nazis, die an der falschen Adresse nach ihr suchten.
Die Fursts wollten nicht glauben, was um sie herum geschah. Wie viele andere Jüdinnen und Juden redeten sie sich ein, dass ein solches politisches System nur vorübergehender Natur sein könne. "Normalen Menschen fiel es schwer zu glauben, dass ein ehemals zivilisiertes Land in die Hände einer von einem kriminellen Irren angeführten Verbrecherbande hatte fallen können." So ergriffen sie nicht auf der Stelle die Flucht, die von den Nazis ohnehin durch alle (un)möglichen bürokratischen und psychologischen Hürden behindert wurde. Später gelang es der Familie monatelang nicht "ein Einreisevisum oder eine Aufenthaltsgenehmigung für irgendein Land der Welt zu ergattern". Mehr "ein Schuss ins Blaue", als ein Hoffnungsschimmer war die Bewerbung Desider Fursts um ein Visum für Großbritannien, wo vierzig Zahnärzte aufgenommen werden sollten.
Die Flucht
Schließlich machten sich die Fursts zwei Tage vor Weihnachten 1938 über Köln und Aachen auf den Weg zur belgischen Grenze. Nach mehreren vergeblichen Versuchen, an ihr Ziel zu gelangen, erhielten sie in einem jüdischen Gemeindehaus einen Kontakt zu Schleusern, die sie bis nach Brüssel brachten. Viele andere Flüchtlinge hatten kein solches Glück, wurden von Betrügern im eisigen Niemandsland zurückgelassen und erfroren. Hungernd und frierend verbrachten auch die Fursts zwei Monate in Belgien, wo sie unter der ständigen Furcht vor Entdeckung und Ausweisung litten. Doch sie erhielten die erlösende Nachricht: Desider Furst würde ein Visum als Zahnarzt in England erhalten. "Wir hatten alles verloren. Unser einziges Guthaben war meine zahnärztliche Zulassung für Großbritannien."
Exilerfahrung
Nach einem jahrelangen Leben in erneuter Armut, nach zermürbenden Bombennächten in London, Rückschlägen und der zu bewältigenden Aufgabe, sich ohne geeignete Sprachkenntnisse in einem fremden Land als "mittellos Gestrandete", "menschliches Treibgut" beruflich zu behaupten, gelang Furst die Etablierung einer erfolgreichen Zahnarztpraxis in Manchester. Seine Frau konnte ihren geliebten Beruf nie wieder ausüben. Tochter Lilian widmet ihr unter der Überschrift "Die stille Teilhaberin" ein bewegendes Kapitel, das den Lebensweg einer dreifach Benachteiligten rekonstruiert – Jüdin, Migrantin, Frau – und bis zur Nazi-Herrschaft gegen alle Widerstände leidenschaftliche Ärztin.
Mit unbeugsamer Zähigkeit und Tatkraft mussten die Fursts ein weiteres Mal die Sisyphos-Arbeit verrichten "zu lernen und (sich) darum zu bemühen, achtbare Bürger", diesmal Englands, zu werden. Sie waren den Briten für die faire Behandlung auf ewig dankbar. Nach Wien, den "Friedhof unserer Träume und Hoffnungen", kehrte die Familie nie mehr zurück, "nicht einmal auf Besuch."
"Daheim ist nirgendwo"
Seinen "Unruhestand" trat Desider Furst nach dem Tod seiner Frau gemeinsam mit Tochter Lilian in den USA an, wo diese an verschiedenen Universitäten als Dozentin und (Gast-)Professorin für Vergleichende Literaturwissenschaft arbeitete. Er starb 1985. Lilian ließ sich schließlich in Chapel Hill, North Carolina nieder. Während ihr Vater großen Wert auf die Betonung seiner Position als "Durchschnittsbürger" legte, wurde Lilian ihr Leben lang vom Gefühl des Andersseins und der Nicht-Zugehörigkeit begleitet. "Daheim ist, wo meine Sachen sind. Daheim ist nirgendwo. Vielleicht ist daheim jenseits des Grabes, vielleicht werde ich im Jenseits vom Anderssein befreit sein", schreibt sie. Den deutschen Pass "mit dem fetten roten `J´ auf der Titelseite" besaß Lilian Furst noch jahrzehntelang, vermutlich bis zu ihrem Tod am 11. September 2009.
AVIVA-Tipp: Ein Zeitzeugnis im besten Sinne des Wortes. Geschichte wird darin als persönliches, als menschliches Erlebnis gegenwärtig. Lilian und Desider Furst ermöglichen es durch ihr differenziertes und feinsinniges Berichten, ihre Menschenkenntnis und scharfe Beobachtungsgabe – darüber hinaus lassen sie einen schalkhaft-ironischen (Galgen-)Humor aufblitzen.
"Der oft rätselhafte Schnittpunkt historischer Konstellationen und persönlicher Schicksale bildet den Subtext dieser Autobiografie, die zeigt, wie das Leben Einzelner durch politische Umwälzungen in völlig unerwartete neue Bahnen gelenkt werden kann", so Lilian Furst.
Zu den AutorInnen: Lilian R. Furst, geboren 1931, war Marcel Bataillon Professor of Comparative Literature an der University of North Carolina in Chapel Hill. Sie starb am 11. September 2009.
Desider Furst, geboren 1900, war Zahnarzt, er starb 1985.
Lilian R. Furst, Desider Furst
Daheim ist anderswo. Ein jüdisches Schicksal. Erinnert von Vater und Tochter
Home Is Somewhere Else. Autobiography In Two Voices
Aus dem Englischen von Erika Casey
Campus Verlag, erschienen am 5. Oktober 2009
Gebunden, 239 Seiten
ISBN 978-3-593-39022-2
24,90 Euro
Weitere Informationen finden Sie unter:
www.campus.de
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