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AVIVA-BERLIN.de im Dezember 2024 - Beitrag vom 30.07.2010


Inger-Maria Mahlke - Silberfischchen
Claire Horst

Schon der erste Absatz zeigt, was für ein Mensch das ist, dieser Hermann Mildt. Ordentlich bereitet er Wurstbrote und Thermoskanne vor, verstaut sie nach einem lange geübten System in seiner...




... Tasche, in der außerdem seine Kamera steckt.

Ein identischer Tag folgt bei Mildt dem anderen. In der Zeitung sucht er täglich nach einem Motiv und fährt dann auf Foto-Exkursion ins Berliner Umland. In Sätzen, karg und knapp wie dieser Alltag, erzählt Inger-Maria Mahlke seine Geschichte. Metaphern und Vergleiche jeder Art erspart sie sich und ihren LeserInnen. Die hat sie auch gar nicht nötig, denn das nackte (Über)leben Mildts ist eindrucksvoll genug in seiner Tristesse und Eintönigkeit.

Sein Denken kreist um das Alltägliche, für Weiteres ist in seiner Denkwelt kein Platz. "Er schob das Tablett mit beiden Händen Richtung Fußende, die Teekanne blieb stehen, schwankte nur, dafür verklebte ein Marmeladenfleck zwei Lakenfalten miteinander, und in der Kuhle, die sein Rücken in die Matratze gedrückt hatte, sammelten sich Graubrotkrümel."

Der Tod seiner Frau und Mildts Umgang damit führte vor Jahren zur Frühpensionierung des Polizeibeamten. Seither lebt er allein zwischen Staub, Dreck und seiner Fotosammlung. Seine Gedankengänge, denen die Leserin mit zunehmender Irritation folgt, führen in die Lebenswelt eines einsamen und unausstehlichen Misanthropen. Festgefahren ist er, erzkonservativ und vollkommen egomanisch. Ganz deutlich wird das, als die einzige weitere Person in diesem kammerspielartigen Roman erscheint.

Jana Potulski und Mildt treffen bei einer Fahrkartenkontrolle aufeinander. Beide haben keine Fahrkarte, ihr fehlt noch dazu der Ausweis. Die Polin bittet Mildt um eine Übernachtungsmöglichkeit, bis ihre Familie einen neuen Pass sendet. Ihrer sei gestohlen worden. Dass Mildt sie in seine Wohnung lässt, bedeutet für beide eine dramatische Veränderung.

Viel geschieht nicht in diesem kurzzeitigen Zweipersonenhaushalt. Jana Potulski putzt und kocht polnische Kartoffelsuppe, die bei Mildt "pommersche" Kartoffelsuppe heißt. Mildt wird immer mürrischer, beschimpft sie, wo er kann, nutzt aber die Gelegenheit, allabendlich ihre Brüste zu befühlen. Ein bedrückendes Bild entsteht da von einem bis zur vollkommenen Sinnlosigkeit reduzierten Leben. Erotik ist nur in einer ernüchternd-erniedrigenden Form möglich, als Selbstbestrafung, die sich die katholische Jana Potulski auferlegt hat. Denn auch sie hat einen furchtbaren Tod zu verarbeiten.

"Das Geräusch des sich drehenden Schlüssels kam so plötzlich, dass er erschrak... Die Träger drückten in ihre fleischigen Schultern. Darunter, weiß, synthetisch glänzend wie ein Panzer und prall gefüllt, die BH-Schalen. Die schwarze Hose hatte sie anbehalten. Ebenso eine beige Nylonstrumpfhose, die sie so weit hochgezogen hatte, dass ihr bleicher Bauch mittig in zwei Wülste geteilt wurde. Eine beige Nylonstrumpfhose, durch die ihr Bauchnabel aussah wie ein seltsam obszönes Loch, viel obszöner als der weiße Panzer."

Dass dieser Roman nicht glücklich enden kann, ist von der ersten Seite an klar. Gepackt wird die Leserin trotzdem und förmlich hineingesaugt in einen Strudel aus Ekel, Faszination und Mitgefühl.

AVIVA-Tipp: Inger-Maria Mahlke ist Juristin und hat am Lehrstuhl für Kriminologie der FU Berlin mitgearbeitet. Vielleicht kommt daher ihr genauer Blick auf die traurigen, die abseitigen Eigenschaften der Menschen. Ihr Buch ist eine präzise Studie der Einsamkeit und der Paranoia, in der diese enden kann. Bedrückend und beeindruckend treffsicher.

Zur Autorin: Inger-Maria Mahlke, geboren 1977 in Hamburg, aufgewachsen in Lübeck, Studium der Rechtswissenschaften an der FU Berlin. Mitarbeit an Projekten des Lehrstuhls für Kriminologie. 2005 Teilnehmerin der Werkstatt für Nachwuchsautoren unter der Leitung von Herta Müller, 2008 Autorenwerkstatt der Jürgen-Ponto-Stiftung und 2009 Auswahl für die Autorenwerkstatt des Literarischen Colloquiums Berlin. Preisträgerin des 17. Open Mike 2009. Sie lebt in Berlin. (Verlagsinformationen)

Inger-Maria Mahlke
Silberfischchen

Roman
Aufbau-Verlag, erschienen im August 2010
Gebunden, 208 Seiten
ISBN: 978-3-351-03309-5
16,95 Euro



Literatur

Beitrag vom 30.07.2010

Claire Horst