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Beitrag vom 23.07.2010
Alia Yunis - Feigen in Detroit
Claire Horst
Ãœber achtzig ist Fatima, die gerade eine Scheidung hinter sich hat und seit genau 992 Tagen bei ihrem schwulen Lieblingsenkel in L.A. wohnt. Trotz ihres hohen Alters hat sie noch viel zu tun,...
... bevor sie sterben kann.
Sterben, das steht ihr in exakt neun Tagen bevor. Das schließt Fatima zumindest aus den nächtlichen Besuchen der Meistererzählerin Scheherazade. Diese werden nach 1001 Nacht vorbei sein. Und als Finale kommt nur der Tod in Frage - oder?
Einiges ist bis dahin zu erledigen: Eine Frau für den Enkel finden - dass er schwul ist, ist für Fatimas starken Willen kein Hindernis - und die passenden ErbInnen für Haus, Kleidung und Erinnerungsstücke aussuchen, das sind nur zwei der schwierigen Aufgaben, die Fatima noch lösen muss. Dass ihre Kinder ganz andere Sorgen haben als ihr seit Jahrzehnten verlassenes Elternhaus im Libanon, merkt Fatima nicht zuletzt daran, dass sie bei ihren täglichen Anrufen nur über das Wetter reden wollen. Und auch in der Frage ihrer gescheiterten Ehe muss sie sich bald von liebgewonnenen Illusionen lösen.
Scheherazade, der Protagonistin von "1001 Nacht", ist es zu verdanken, dass Fatima und mit ihr die Leserin einen immer präziseren Einblick in die Seelenwelt der Familie erhalten. Jede Nacht fordert sie neue, möglichst erotische Geschichten von der alten Frau und zwingt sie so, sich Vergessenes in Erinnerung zu rufen. Die Tage nutzt sie, um die erwähnten Familienmitglieder aufzuspüren. Überall in den USA und der Welt verstreut leben sie und quälen sich mit ihren unglücklichen Ehen, Krebserkrankungen oder ihrer Alkoholsucht herum. Der 11. September hat zudem auch bei ihnen seine Spuren hinterlassen – und einigen gelangweilten FBI-AgentInnen einen Job vor Amirs Haustür verschafft.
Und dennoch ist es kein deprimierender Roman, den die Journalistin und Universitätsdozentin Yunis vorgelegt hat. Ihre Figuren sind selbstironisch genug, um mit Stereotypen zu spielen. Ironische Distanz ist das bevorzugte Stilmittel der Autorin - ihre Hauptfigur Fatima ist eine festgefahrene, ignorante und konservative, zugleich aber humorvolle, wandelbare und zynische alte Dame, die sich von niemandem etwas vormachen lässt.
Ebenso vielseitig ist ihre große Nachkommenschaft - zu ihren zehn Kindern kommen noch EhepartnerInnen und Kinder. Fast ein Querschnitt der migrantischen EinwohnerInnenschaft der USA ergibt sich aus der Darstellung dieser einen Familie. Neureiche, die ihre Herkunft verschleiern, sind genauso darunter wie gescheiterte Existenzen und wiedergeborene ChristInnen, erfolgreiche ÄrztInnen und ein Schauspieler. Wohltuend normal stellt Yunis` diese Vielfalt dar - die Abdullahs sind eine amerikanische Familie unter vielen.
Die Milieus, die die Autorin beschreibt, könnte sie aus eigener Erfahrung kennen, denn die Tochter eines libanesischen UN-Diplomaten ist unter anderem im Mittleren Westen und im Mittleren Osten der USA aufgewachsen. Die Journalistin lehrt heute Kommunikationswissenschaften - und gescheiterte Kommunikation ist ein zentrales Thema von "Feigen in Detroit".
AVIVA-Tipp: Realität und Fiktion, Jetztzeit und Vergangenheit wechseln sich ab in diesem vielschichtigen Roman. Dass man der eigenen Erinnerung nicht trauen sollte, dass das gleiche Ereignis auch gegensätzlich interpretiert werden kann, lernen Yunis` Figuren erst spät im Leben. Manchmal braucht es eben Hilfe aus einer anderen Welt - selbst wenn man an deren Existenz zweifelt. Unter den ProtagonistInnen sind viele, deren Humor man schmerzlich vermisst, wenn man das Buch zugeklappt hat. Ein Schmöker im besten Sinne - unglaublich komisch und schmerzhaft berührend zugleich.
Alia Yunis
Feigen in Detroit
Roman
Aufbau-Verlag, erscheint 25. August 2010
Aus dem Englischen von Max Stadler, Nadine Püschel
Gebunden, 448 Seiten
ISBN: 978-3-351-03322-4
19,95 Euro
Zur Autorin: Alia Yunis wurde in Chicago geboren und hat in mehreren Ländern als Journalistin und Filmemacherin gearbeitet. Sie wuchs im Mittleren Westen der USA und in Beirut auf, machte ihren Schulabschluss in Athen und studierte in Minnesota und Washington. Sie unterrichtet Film und Fernsehen an der Zayed-Universität in Abu Dhabi.
Die Autorin im Netz: www.aliayunis.com
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