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AVIVA-BERLIN.de im Dezember 2024 - Beitrag vom 23.07.2010


Viktorija Tokarjewa - Der Baum auf dem Dach
Sabine Grunwald

Die junge zarte Schauspielerin Vera ist nicht nur schön, sondern auch eine Überlebenskünstlerin. Sie überlebt nicht nur die Belagerung von Leningrad - auch ihrer Rivalin hält sie stand.




Die blonde blauäugige Vera war eine Schönheit, die sich nach Leningrad aufmachte, um Schauspielerin zu werden. Den Zeitgeist beschreibt Viktorija Tokarjewa treffend mit: "Alle hübschen Mädchen wollten damals Schauspielerin werden, wollten ihre Schönheit zeigen, wollten alle beeindrucken..."

Sie schaffte es bis ins Leningrader Theaterstudio, wo sie nicht wegen ihres Talents sondern wegen ihres Typs gefragt war , denn sie war die Verkörperung Russlands. Vera heiratete Alexander, einen Professorensohn, und verwöhnte die weltfernen Eltern und ihren Ehemann mit ihren Kochkünsten. An ihrem 21. Geburtstag begann der Krieg mit Deutschland und während der Belagerung Leningrads verhungerten viele Menschen. Auch ihr Mann und die Schwiegereltern kamen ums Leben, während Vera es schaffte zu entkommen und sich in Moskau ein neues Leben aufzubauen. Vera schlug sich mit einfachen kleinen Rollen durchs Leben und übernachtete im Theater, um Zeit und Fahrtkosten zu sparen. Ihr Leben verlief gleichförmig ohne Höhen und Tiefen.

"Vera weinte oft. Ohne mit dem Weinen aufzuhören, zog sie unter dem Kopfkissen einen Kanten Brot hervor und knabberte daran. Seit der Blockade aß sie, wann immer sie konnte ... Von Zeit zu Zeit bekam sie eine Rolle, wegen ihres Typs, sie spielte die einfache, gute Frau. Die ohne Charakter."

Nach einer Abtreibung lernte sie Alexander "Nummer Zwei" kennen, der zu einem gefragten Regisseur aufsteigt. Sein erster Film, mit Vera in der Hauptrolle, gewinnt bei einem Filmfestival im Ausland den ersten Preis. Vera wird mit fast vierzig noch einmal schwanger und beschließt gegen den Willen des Vaters, das Kind zur Welt zu bringen. Sie zieht mit ihrem Sohn Iwan zu den Eltern von Alexander, die den kleinen Enkel über alles lieben.
Alles fügte sich aufs Beste, auch Alexander liebt seinen Sohn und akzeptiert Vera als Ehefrau, bis die junge Lena in sein Leben tritt. Mit der ernsthaften jungen Frau, einer Drehbuchautorin, die alles andere als eine femme fatale ist, erlebt er die Höhen und Tiefen einer gemeinsamen intensiven Arbeit. Vera erkennt die Gefahr, die von der Rivalin ausgeht und beginnt, um ihr Lebensglück zu kämpfen...

"Vera machte eine zweite, glänzende Schauspielkarriere. Sie wurde noch besser. Ihre Persönlichkeit war auch nicht düsterer geworden durch all die Erniedrigungen. Vera war wie ein Bau, der auf einem Dach wächst. Er hat keine Erde, und seine Wurzeln konnten sich nicht in die Tiefe graben, aber da steht er trotz allem, der Baum. Lebendig und mit den Blättern rauschend".

In klar strukturierten Sätzen, und einer einfachen und schönen Bildsprache, zeichnet Viktorija Tokarjewa das Leben ihrer Heldin Vera nach, die trotz ihrer Zerbrechlichkeit eine Stärke und Zähigkeit aufweist, die sie alles Unheil das ihr zustößt, überleben lässt. Mit der Sicherheit und Unbedarftheit einer Somnambulen wandelt die Protagonistin durch ihr Leben. Auf der Suche nach ihrem privaten Glück, immer nur das Gute im Sinn, erweist sie sich als wahre Überlebenskünstlerin und von einer großen Liebes- und Leidensfähigkeit.

AVIVA-Tipp: "Der Baum auf dem Dach" ein kleiner Roman über die großen Gefühle, der doch ganz ohne Pathos auskommt! Hervorragend geschrieben, tragisch und komisch zugleich.

Zur Autorin: Viktorija Tokarjewa, 1937 in St. Petersburg (Leningrad) geboren, studierte nach kurzer Zeit als Musikpädagogin an der Moskauer Filmhochschule das Drehbuchfach. 15 Filme sind nach ihren Drehbüchern entstanden. 1964 veröffentlichte sie ihre erste Erzählung und widmete sich ab da ganz der Literatur. Sie lebt heute in Moskau. (Quelle: Verlagsinformation).

Viktorija Tokarjewa
Der Baum auf dem Dach

Aus dem Russischen von Angelika Schneider
Diogenes Verlag, erschienen Februar 2010
208 Seiten, Gebunden
ISBN 978-3-257-06749-1
19,90 Euro



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Beitrag vom 23.07.2010

Sabine Grunwald