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Beitrag vom 01.07.2010
Pauline de Bok - Blankow oder das Verlangen nach Heimat
Sabine Grunwald
Die Autorin erzählt die bewegte, über 200 Jahre währende Geschichte des Gutes Blankow und die tragischen Lebensgeschichten seiner BewohnerInnen anhand von Briefen und Gesprächen mit Einheimischen
"Wer etwas von der DDR und der deutschen Geschichte verstehen will", so Cees Nooteboom, "der kommt nicht um dieses Buch herum.".
Pauline de Bok fasst in einem dreiseitigen Vorwort die Geschichte des Vorwerks Blankow zusammen und erzählt uns von seiner wechselvollen Geschichte, die im Jahre 1827 mit der Fertigstellung des Nebengutes, das am Mürzinsee gelegen ist, beginnt. Im Laufe seiner Geschichte beherbergte das Gehöft Hunderte von Menschen - Bauern, Knechte, Tagelöhner und ihre Familien, Saisonarbeiter aus Deutschland, Polen und Russland. Es erlebte den ersten und zweiten Weltkrieg bis hin zum Aufbau und Niedergang der Deutschen Demokratischen Republik.
Die Autorin überlässt sich zusammen mit ihrem Hund, fern von der Stadt, ihrer Informationsflut und den Menschen, für etwa ein Jahr der Einsamkeit eines Gehöfts in Mecklenburg-Vorpommern, einem Anwesen deutscher Freunde, die es nach der Wende erworben, aber nur teilweise und bescheiden zur Sommerfrische restauriert haben. Weite Teile des Gehöfts stehen leer und sind dem Verfall preisgegeben, solange die Bewohnerin sie nicht für ihre Bedürfnisse herrichtet.
"(...) Ich bin gekommen, um vollendete Tatsachen zu schaffen. Ich will wissen, was passiert, wenn ich monatelang allein lebe, auf dem Land, von Tag zu Tag. Ich will herausfinden, wie sich das auf meine Angst und mein Verlangen nach Sinn auswirkt."
Mithilfe von Briefen und Dokumenten, denen sie im Schweriner Landesarchiv nachspürt, rekonstruiert sie die authentische und erschütternde Lebensgeschichten der Bewohnerinnen Blankows, die die Zeit zwischen 1827 und der Gegenwart Schicht um Schicht freilegen. Als Fremde beargwöhnt, nähert sie sich in Gesprächen mit Einheimischen schrittweise den Spuren der fernen und jüngeren Vergangenheit und bedient sich eines kollektiven Gedächtnisses, das die wechselhafte Geschichte dieser Region bestimmte. Ihre eigene vorsichtige Annäherung an den Ort, seine Vergangenheit und an die Menschen wechseln ab mit genauen Betrachtungen der Natur und der Schilderungen der menschlichen Schicksale, die dieser Ort erlebte. Erschütternde Begebenheiten, Vergewaltigungen durch die Sieger, Selbstmorde, das Schicksal der Vertriebenen, einige wohnen noch immer in der Gegend, machen die Geschichte von Blankow aus.
"Während ich über die Chaussee zurück radle, frage ich mich ob es überhaupt möglich ist, die Geschichten, die hier ihren Ursprung hatten, nach Blankow zurückzubringen, und ob es überhaupt einen Sinn ergibt, diese Lebensläufe auszugraben. Vielleicht ist es nur romantische Spinnerei, dass das den Ort heiler machen würde. Vielleicht bin ich ja schon von deutscher Gefühlsseligkeit angehaucht. Ich verrenne mich, was für ein sinnloses Unterfangen."
In ihrem Nachwort verweist Pauline de Bok darauf, dass die Personen und die Orte in ihrem Buch anonymisiert dargestellt wurden, ihr geht es nicht um die Individuen, doch zugleich ist sie davon überzeugt, dass sich die große Historie am besten anhand von Einzelschicksalen erzählen lässt. Ihr geht es auch nicht um die moralischen Fragen von Schuld und Nichtschuld, von Tätern und Opfern, zwischen denen eine klare Trennungslinie so schwer zu ziehen ist. Es geht ihr darum herauszufinden, wie sich Menschen mit ihrer Gebundenheit an Zeit, Ort und Umwelt und Familie durchs Leben schlagen. Und wie jede/r sich mit seinem Schicksal versöhnen muss.
AVIVA-TIPP: Mit ihrem Buch, einer Mischung aus Journalismus und Fiktion, das literarisch und inhaltlich eine hohe Qualität aufweist, schafft Pauline de Bok einen wertvollen Beitrag des Erinnerns, der über die Region hinaus eine interessierte LeserInnenschaft verdient.
Zur Autorin: Pauline de Bok, geboren 1956, lebt in Amsterdam. Sie studierte Theologie, Philosophie, Germanistik und arbeitet als Journalistin, Übersetzerin und Autorin. Blankow wurde für den M.J. Brusse-Preis 2008 nominiert. 2010 erhält die Autorin den "Annalise-Wagner-Preis 2010".
Weitere Informationen und Kontakt unter: www.paulinedebok.nl
Pauline de Bok
Blankow oder Das Verlangen nach Heimat
Aus dem Niederländischen von Waltraud Hüsmert
Weissbooks Frankfurt am Main, erschienen September 2009
ISBN 978-3-940-888-04-4
312 Seiten, Gebunden
22 Euro