Kerstin Decker - Mein Herz - Niemandem. Das Leben der Else Lasker-Schüler - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Literatur



AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 06.06.2010


Kerstin Decker - Mein Herz - Niemandem. Das Leben der Else Lasker-Schüler
Sabine Grunwald

Kerstin Decker beschreibt das Leben dieser eigenwilligen und radikalen Frau, die mit ihrer expressionistischen Lyrik maßgeblich die literarische Moderne des anfangenden 20. Jahrhunderts begründete




...Alles Schreiben ist autobiografisch?
Für niemanden gilt diese Vermutung mehr als für Else Lasker-Schüler, "die größte Lyrikerin, die Deutschland je hatte"...Mit diesen Worten markiert das Zitat von Gottfried Benn den Eingang dieser Biographie von Kerstin Decker.


Else Lasker-Schüler (1869-1945) die große Dichterin der Moderne, wurde als jüngstes von sechs Kindern in Elberfeld an der Wupper geboren. Ihr Geburtsjahr gab sie meist mit 1876 oder später im Alter mit 1891 an. Auch sonst waren ihre eigenen biografischen Angaben recht fantasievoll.

Mit folgendem Lebenslauf wird sie in der Anthologie Führende Frauen Europas die 1930 erschien, vorgestellt: In die Schule ging ich sehr ungern...Mit fünf Jahren dichtete ich mein erstes Buch, es erschien in einer Auflage von 30.000 Stück bei Ullstein. Seitdem leistete ich nichts mehr....
Ihr Vater Aron Schüler war ein jüdischer Bankier und mit Jeanette Schüler, geb. Kissing verheiratet. Der erste schwere Schlag für die 13jährige Else war der Tod ihres Lieblingsbruders Paul. Als im Jahr 1890 ihre Mutter starb, bedeutete dieser Tod die Vertreibung aus dem Paradies. Kerstin Decker merkt an:
"Der Tod der Mutter teilt das Leben der Einundzwanzigjährigen in zwei Hälften – die Hälfte davor und die danach. Sie wird es nie anders sehen können. Wie meine Mutter starb, zerbrach der Mond. Noch einmal trennte Er, der Herr, das Wasser von dem Land. Es blitzt! Feurige Worte schreibt der glühende Zickzack auf die finstere Seite des himmlischen Bilderbuchs, ein Menetekel an die Westwand der Welt."

Der Tod der Mutter macht sie zur Dichterin. Doch wird es noch zehn Jahre dauern, bis auch die Welt davon erfährt. 1894 heiratet Else den Arzt Jonathan Berthold Barnet Lasker, der nicht nur heilt, sondern auch Vorträge über Literatur hält und ein begabter Schachspieler ist. Die Ehe hält auf dem Papier bis 1903. Nun kann sich die junge Ehefrau „Frau Doktor“ nennen und eine Sechszimmerwohnung beziehen, bevor das junge Paar nach Berlin geht.
Hier wird Else Lasker-Schüler Jahre später noch einen Mediziner, Gottfried Benn, kennen und lieben lernen. Doch zunächst liegen stumme Jahre vor ihr. Mit dreißig Jahren lässt sie alle Sicherheiten hinter sich, um ein neues Leben zu beginnen. 1899 wird ihr Sohn Jean Paul geboren und vier Gedichte von ihr im Augustheft der „Gesellschaft“ abgedruckt.
1902 erschien ihr erster Gedichtband Styx.

Die Autorin resümiert:
"Man könnte Else Lasker-Schülers Lyrik und auch ihre Prosa als Herz-Dichtung bezeichnen. Vielleicht hat niemand so viel vom Herzen gesprochen wie sie. Und niemand so wie sie, gleichsam von innen her geschützt vor jedem Anflug des Trivialen, jedes verbrauchte Sprachbild naturhaft meidend."
Nach ihrer Scheidung heiratet sie im November 1903 den zehn Jahre jüngeren Schriftsteller und Verleger Georg Lewin, dem sie das Pseudonym Herwarth Walden gab. Die Ehe hielt bis 1910 und wurde 1912 geschieden.
Einem ihrer engsten Freunde, Peter Hille, widmete sie nach dessen Tod ihr erstes Prosawerk, das Peter-Hille-Buch, das 1906 erschien. 1907 folgte die Prosasammlung die Nächte der Tino von Bagdad und 1909 publizierte sie das Schauspiel Die Wupper, das erst zehn Jahre später am Deutschen Theater in Berlin uraufgeführt wird. Mit dem Gedichtband Meine Wunder (1911) avancierte Else Lasker-Schüler, die sich gerne Prinz von Theben, Tino von Bagdad, oder Jussuf nannte, schließlich zur führenden deutschen Expressionistin.

Nach der Scheidung von Walden erhielt sie finanzielle Unterstützung von Freunden, insbesondere von Karl Kraus. Aus der Liebesbeziehung und tiefen Freundschaft zu Gottfried Benn, dem sie 1912 begegnete, resultierte eine große Anzahl von Liebesgedichten. 1913 erscheinen Gedichte, Essays und andere Geschichten und sie reist nach Russland um sich um die Freilassung des inhaftierten Anarchisten Senna Hoy (Johannes Holzmann), den vermutlichen Vater ihres Sohnes zu bemühen. Dieser stirbt jedoch 1914 in Haft. Im gleichen Jahr macht sie die Bekanntschaft von Georg Trakl und veröffentlicht das Geschichtenbuch Der Prinz von Theben. 1919 erscheinen die ersten vier Bände von zehn ihrer Gesamtausgabe bei Paul Cassirer in Berlin. 1927 kommt es zu einer erfolgreichen Neuinszenierung der Wupper im Schauspielhaus am Gendarmenmarkt. Gleichzeitig stürzt sie der frühe Tod ihres Sohnes im selbigen Jahr in eine tiefe Krise.

1932 wurde die Dichterin mit dem Kleist-Preis ausgezeichnet, emigrierte aber angesichts der nationalsozialistischen Bedrohung nach Zürich. Von dort reiste sie 1934 und 1937 nach Palästina. Nach der Aberkennung der deutschen Staatsbürgerschaft 1938 reiste sie 1939 zum dritten Mal nach Israel, wo sie wegen des Kriegsausbuchs an einer Rückkehr in die Schweiz gehindert wurde. Nach einem schweren Herzanfall starb die Dichterin am 22. Januar 1945 und wurde auf dem Ölberg in Jerusalem begraben.

Zur Autorin: Kerstin Decker, geboren 1962 in Leipzig, lernte Verkäuferin, studierte in Leipzig Journalistik und in Berlin Philosophie, promovierte, wurde Reporterin des Tagesspiegels, Kolumnistin der taz, Theater- und Filmkritikerin.
Sie schrieb zusammen mit Angelica Domröse deren Autobiographie "Ich fang mich selbst ein" (2003), außerdem "Oscar Wilde für Eilige" (2004) und die Biographie "Heinrich Heine. Narr des Glücks" (2005). Gemeinsam mit Gunnar Decker veröffentlichte sie u. a. "Letzte Ausfahrt Ost. Die DDR im Rückspiegel" (2004). Ihre Modersohn-Becker-Biographie erschien ebenfalls im Propyläen Verlag.
Kerstin Decker lebt in Berlin. (Verlagsinformation)

AVIVA-Tipp: Kerstin Decker ist es mit dieser großartigen Biografie gelungen, ein verständnissinniges Buch über eine der größten Wegbereiterinnen der Moderne vorzulegen. Mit großem Einfühlungsvermögen und einem Sprachvermögen, das dem Wesen der Lyriker- und Dramatikerin gerecht wird, gelingt es Decker, die biografischen Winkelzüge und Motive der Dichterin in ein lebendiges und kenntnisreiches Portrait zu verwandeln. Ein berührendes Leserlebnis!

Kerstin Decker
Mein Herz – Niemandem
Das Leben der Else Lasker-Schüler

Propyläen, erschienen Oktober 2009
480 Seiten, Gebunden
ISBN 978-3-549-07355-1
22,90 Euro

Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:

"Paula Modersohn– Becker", eine Biographie von Kerstin Decker

"IchundIch" von Else Lasker-Schüler

"Mein blaues Klavier". Neue Gedichte von Else Lasker-Schüler

"Ich träume so leise von dir" Die berühmte Dichterin auf CD. 13 Sängerinnen geben ihren Texten eine Stimme.


Literatur

Beitrag vom 06.06.2010

Sabine Grunwald