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Beitrag vom 12.05.2010
Rivka Galchen - Atmosphärische Störungen
Claire Horst
"Wir können nicht sagen, wie das Wetter morgen (oder in einer Stunde) sein wird, weil wir nicht exakt genug wissen, wie es jetzt gerade ist." Dieses Zitat des Meteorologen Tzvi Gal-Chen steht,...
... gemeinsam mit einem Gilles Deleuze-Zitat über die Liebe, am Anfang des Erstlingsromans der US-amerikanischen Autorin.
Zusammen weisen die beiden Auszüge auf die Vielschichtigkeit des Romans hin. Wie beim großen Robert Musil und seinem "Mann ohne Eigenschaften" oder auch bei Juli Zehs "Spieltrieb" ist das Wetter ein Leitmotiv des ungewöhnlichen Werks von Rivka Galchen. Anders als bei den erstgenannten AutorInnen dient das Wetter ihr jedoch nicht nur als Metapher, anhand derer Geschehnisse beurteilt werden können. Stattdessen hat die Beschäftigung mit dem Wetter bei Galchen die Macht, ganze Lebensläufe umzulenken. Gleich zwei Charaktere werden aus der Bahn geworfen.
Dr. Leo Liebenstein, Psychiater in New York, ist fest davon überzeugt, dass seine geliebte Frau Rema durch eine Doppelgängerin ersetzt wurde. Es sind die kleinen Feinheiten, an denen er das erkennt. Rema trinkt anders, in kleineren Schlucken als "das Simulakrum". Und sie hätte nie einen Hund mit nach Hause gebracht. Leo nimmt sich daher vor, nicht zu ruhen, bis er die wahre Rema gefunden hat. Seine Suche lässt ihn seine Arbeit vernachlässigen - Freunde hat er sowieso nicht - und treibt ihn bis nach Argentinien.
Vorausgegangen ist dem vermeintlichen Austausch seiner Ehefrau das Verschwinden eines seiner Patienten. Der junge Harvey hält sich für einen Geheimagenten der (fiktiven) meteorologischen Gesellschaft "Royal Academy of Meteorology". Diese hat ihn, wie er glaubt, beauftragt, das Wetter zu überwachen und Störungen auszumerzen. Nur deshalb verschwindet er immer wieder von zu Hause, wird von der Polizei aufgegriffen und macht seiner Mutter Sorgen.
Rema hatte damals die Idee, Leo solle auf Harveys Spleen eingehen und sich als geheimes Mitglied der "Royal Academy" ausgeben, um seinen Patienten zumindest in New York zu halten. Deshalb hat Leo den Kontakt zu Tzvi Gal-Chen, einem hochrangigen Academy-Mitarbeiter, vorgetäuscht und übermittelt Harvey immer wieder dessen erfundene Befehle. Das klappte ganz gut, bis Harvey schließlich doch verschwindet und das Simulakrum auftaucht. Von nun an gerät Leos Leben aus den Fugen.
Leo findet sich mit diesen Veränderungen nicht ab. Er nimmt Kontakt zu Tzvi Gal-Chen auf und verstrickt sich immer tiefer in vermeintliche Geheimaufträge. Selbst der Tod von Gal-Chen, von dem er im Internet liest, bringt ihn nicht ins Wanken. Leo hat schlicht ein Stadium erreicht, in dem er mit Toten kommunizieren kann, so einfach ist das. Auch die Suche nach der "wirklichen" Rema lässt ihn nicht mehr ruhen, obwohl ihm die falsche mehr und mehr ans Herz wächst. Lieben kann er nur die echte.
Eigentlich geht es doch nicht ums Wetter in diesem doppelbödigen Roman. Die Frage nach der wirklichen Identität eines Menschen steht im Vordergrund. Können wir uns dessen sicher sein, wer wir sind, und wen wir vor uns haben? Ist meine Frau dieselbe wie gestern, nur weil sie fast genauso aussieht? Und warum sollte Undenkbares nicht möglich sein?
Die Autorin Rivka Galchen spielt diese Doppelbödigkeit auf mehreren Ebenen durch. Tzvi Gal-Chen ist der Name ihres Vaters, tatsächlich Meteorologe, der aus Israel in die USA emigrierte und wie Galchens Romanfigur mit 55 Jahren verstarb. Die Auseinandersetzung mit dem Verlust eines geliebten Menschen, mit dem Verlust der Bodenhaftung, führt für Leo Liebenstein zum kompletten Realitätsverlust. Galchen dagegen setzt ihrem Vater ein Denkmal - hin und wieder sind sogar Fotos von ihm (oder dem fiktiven Gal-Chen?) im Text enthalten.
AVIVA-Tipp: Mit "Atmosphärische Störungen" ist Rivka Galchen das Kunststück gelungen, intelligente Fragestellungen mit Unterhaltung auf hohem Niveau zu verknüpfen. Die vielen Fäden, die ihr Protagonist aufnimmt, ohne sie wieder zusammenzuführen, lösen Unruhe aus. Dieser Roman arbeitet weiter, nachdem er längst zugeklappt wurde.
Zur Autorin: Rivka Galchen wurde 1976 in Toronto geboren und wuchs in Normal, Oklahoma, auf, wo ihr Vater Professor für Meteorologie war und am lebenden Objekt Tornados erforschte. Sie studierte Literatur und Medizin in Princeton und an der Mount Sinai Medical School. Ihr Erstling "Atmosphärische Störungen" war ein großer Erfolg in den USA. Rivka Galchen ist verheiratet und lebt in Brooklyn. (Verlagsinformationen)
Rivka Galchen - Atmosphärische Störungen
Aus dem Amerikanischen von Grete Osterwald
Rowohlt Verlag, Reinbek
Erschienen am 12.03.2010
Hardcover, 320 Seiten
19,95 Euro
ISBN 978-3-498-02512-0
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