Muriel Scheu - Kein ganzes Halbes - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Literatur





 

Chanukka 5785




AVIVA-BERLIN.de im Dezember 2024 - Beitrag vom 22.03.2010


Muriel Scheu - Kein ganzes Halbes
Adriana Stern

Die Autorin legt mit diesem Werk eine in vielerlei Hinsicht ungewöhnliche Autobiographie vor. Bildreich und spannend beschreibt sie ihr Doppelleben als Junkie, erzählt davon, dass sie seit...




... dem Alter von 14 Jahren fast 30 Jahre lang geführt hat einerseits und als Allroundgenie in der Film-, Musik- und Medienbranche andererseits. Sie ist namhaften Persönlichkeiten wie Orson Wells, Peter Scholl-Latour, Konstantin Wecker, Bob Marley, Billy Idol oder Bands wie den Toten Hosen, Kraftwerk und den Rolling Stones begegnet.

Muriel Scheu, geboren irgendwo in einer Kleinstadt im Sauerland, spürt schon früh, dass das sie in einem ganz normalen, spießigen Leben vollkommen fehl am Platz sein würde. Als sie nach Dreharbeiten unter dem bekannten Regisseur Peter Bogdanovich nach Deutschland zurückmuss, schreibt sie: "Verwirrt und orientierungslos fand ich mich im Sauerland auf die bekannte Weise überflüssig. Mein Platz war hier nicht, war es niemals gewesen. Überall fühlte ich mich fremd. Auch mir selbst war ich fremd."

Muriel findet sich in der spießigen Umgebung schon mit acht Jahren nicht mehr zurecht. Sie zieht sich an einen geheimen Ort zurück, den außer ihr niemand kennt. In einer alten Stileiche liest sie verbotene Magazine (wegen der Abbildung halbnackter Frauen) wie den Stern oder die Quick und zahlreiche Bücher von fernen Ländern und Kulturen, die ihre Abenteuerlust wecken. In ihren Träumen ist sie wild und unerschrocken, in Wirklichkeit aber ist sie weder mutig noch stark. Als der Vater als Beauftragter des Deutschen Entwicklungsdienstes für die beiden Länder Niger und Obervolta eine Stelle in Niamey antritt, hofft Muriel inständig, sie möge sich dort, im fernen Afrika, endlich zugehörig fühlen.

Sie bleibt fast zwei Jahre und ist heilfroh, denn hier fühlt sie sich endlich zu Hause, und geht mit der Familie vier Jahre später und mit zwei Jahren Drogenerfahrung, einschließlich harter Drogen wie Heroin, von der die Eltern nichts wissen, erneut nach Afrika. Diesmal allerdings nach Westafrika, an die Elfenbeinküste, nach Abidjan. Doch bei diesem zweiten Aufenthalt vermisst sie die im Sauerland neu gewonnenen FreundInnen, die so erfrischend anders sind, zu denen sie sich hingezogen und in deren Nähe sie sich aufgehoben fühlt und kann sich auf diesen Teil von Afrika nicht mehr einlassen. Von ihren Eltern hat sie sich mittlerweile völlig entfremdet, was sich durch ihr Geheimnis des illegalen Drogenkonsums noch verschärft.

Der Beginn der Regelblutung, der Muriel zutiefst schockiert und die erste Liebe, die enttäuschend endet, stürzt sie in eine tiefe Krise. Nur noch in der Drogenszene fühlt sie sich zu Hause, also konsumiert sie immer mehr Drogen, fängt an, selbst zu dealen, entwendet Drogen aus einem Krankenhaus und fühlt sich vor allem von ihrer Mutter immer stärker abgelehnt. Sie hört Pink Floyd, Jethro Tull Deep Purple, Kings, Renaissance.

Ihre Beschreibungen rufen Erinnerungen an die Hippiezeit wach, die 68er Bewegung, in der die verschrobenen Moralvorstellungen der Wirtschaftswunderzeit endgültig von einer neuen Generation über Bord geworfen wurden. Muriel bekommt diese Protestbewegung nur am Rande mit, ohne selbst aktiv Teil der Bewegung zu sein, die sie prägen. Mit 15 läuft sie zum ersten Mal von zu Hause weg, nach Amsterdam, wo sie sich durchschlägt, bis die Polizei sie findet. Aus dem schüchternen Mädchen wird eine rebellische Jugendliche und eine mutige, neugierige, starke Erwachsene.

Sie bricht ihr Studium ab und nimmt verschiedene Jobs als Reiseleiterin, Großverdienerin bei Apple, als Assistentin in der Regie und ähnliches auf verschiedenen Kontinenten an.. Während dieser Zeit führt sie ein fast perfektes Doppelleben als Drogensüchtige und Managerin von Aufgaben in unterschiedlichsten Berufssparten.

AVIVA-Tipp: Unter dem Pseudonym Muriel Scheu ist der Autorin eine interessante und literarisch beeindruckende Biografie gelungen, die bildhaft, pointiert und spannend zu lesen ist. Besonders hoch anzurechnen ist ihr die aufrichtige Wahrhaftigkeit und beinahe schmerzhafte Offenheit, die sie mit viel Humor vermittelt, wobei sie trotzdem nichts beschönigt und nichts auslässt.
Zur Autorin: Muriel Scheu ist ein Pseudonym. Die Autorin wurde 1956 im Sauerland geboren und lebt heute nach Stationen in Kroatien, Tunesien und Asien im Rheinland. (Quelle Verlag Rowohlt)

Muriel Scheu
Kein ganzes Halbes

Wunderlich Verlag, erschienen 16.01.2010
Gebundene Ausgabe: 480 Seiten
ISBN: 978-3805208796
19,95 Euro

Weiterlesen auf AVIVA - Berlin:

"Adler und Engel" von Julie Zeh


Literatur

Beitrag vom 22.03.2010

AVIVA-Redaktion