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AVIVA-BERLIN.de im Dezember 2024 - Beitrag vom 10.02.2010


Nadeem Aslam - Das Haus der fünf Sinne
Adriana Stern

Aslam beschreibt einige Wochen im Leben der fünf ProtagonistInnen, die sich in einem Haus mitten in Afghanistan im Jahr 2004 begegnen und spiegelt damit gleichzeitig ein viertel Jahrhundert Krieg...




... und seine dramatischen Folgen für ein ganzes Land und seine Bevölkerung wider.

Das Haus der fünf Sinne

Aslam wählt einen Ort für die Begegnungen seiner ProtagonistInnen, der Zeugnis ist für die Hochkultur in Afghanistan vor der Zerstörung durch den Krieg und die unbeschreibliche Gewalt der Taliban, die sich gegen alle richtet, die sich ihren barbarischen Vorstellungen nicht unterwerfen wollen.
Es ist ein Haus aus dem 19. Jahrhundert, das in Usha steht, einem Dorf nahe der Tora-Bora-Berge. Fünf Zimmer darin sind den fünf Sinnen gewidmet und die Wände dort liebevoll bemalt. Sie stellen den Islam in seiner Vielfalt; Toleranz und Schönheit dar.

Der Amerikaner Marcus Caldwell, der seit vielen Jahren hier lebt, hat die Gemälde durch das Überstreichen mit Lehm vor den Augen der Taliban geschützt, die ein Bilderverbot ausgesprochen haben. Die Büchersammlung hat seine afghanische Frau Quatrina an die Decken genagelt, um sie vor dem Zugriff der Taliban zu schützen, nachdem sie von ihnen gezwungen wurde, ihrem Mann eine Hand abzuhacken. Sie wurde 2001 gesteinigt, weil ihre 39 jährige Ehe mit Marcus in den Augen der Taliban nicht rechtmäßig war.

Die Suche und das Schicksal der im Krieg Verschollenen

Der Roman beginnt, als Lara aus St. Petersburg in das Haus der fünf Sinne kommt, weil sie gehört hat, dass ihr verschollener Bruder Benedikt in diesem Teil des Landes gesehen wurde. Sie weiß genauso wenig wie Marcus, auf welch dramatische und schreckliche Weise das Leben ihres Bruders mit dem von Marcus Tochter Zameen verbunden ist. "Benedikt Petrowitsch. Der Mann, der durch wiederholte Vergewaltigung Zameens Kind zeugte."

Das ist nur David Town bekannt, der in Zameen verliebt war und ihren Vater Marcus erst später kennen lernte. Er bringt es nicht über sich, Marcus und Lara zu sagen, dass Zameens Sohn Bihzad aus diesen Vergewaltigungen entstand.

David Town, jetzt Edelsteinhändler, war CIA Agent. Er hat Usha eine Schule gespendet, die von einem jungen Mann in einem Selbstmordattentat in die Luft gesprengt wird. Der junge Mann nannte sich Bihzad, wie einige andere junge Männer auch, in der Hoffnung, Marcus würde ihm helfen, Afghanistan zu verlassen.

Die Kriegsherren von Usha

Bihzad war nur ein kleiner "Handlanger" von Nabi Khan, einem Anführer des Widerstandes, der Gul Rasool bekämpft, der der jetzige Kriegherr von Usha ist. Angeleitet bei diesem Attentat wird Bihzad von Casa. "Der Mann(Casa) in diesem Kellerraum kann nicht zurück in sein heimisches Dorf Usha, weiß Bihzad. Dort hat der Feind die Macht an sich gerissen, nachdem er Ende 2001 Geld und Waffen von den Amerikanern angenommen hat, um bei der Vernichtung der Taliban und von al-Qaida zu helfen."

Ihre Feinde, so beschreibt es Aslam, werden die Talibanführer Gul Rasool und Nabi Khan los, indem sie sie als Feinde der jeweiligen Regierungen ausgeben, damals der russischen und heute der amerikanischen. So machte es Gul Rasool mit Zameen, als sie entdeckte, dass er im nahe gelegenen Sumpfgebiet alle die Ehefrauen tötete, die er loswerden wollte.
Zameen wird auf grausame Weise hingerichtet.

Ein Taliban von Nabi Khans Gruppe im Haus der fünf Sinne

Als Casa mit seinem Angriff auf Usha scheitert, rettet er sich in das Haus der fünf Sinne, ohne seine wahre Identität preiszugeben. Auch Dunia, die neue Lehrerin von Usha, sucht Schutz vor den Taliban in Marcus Haus. Diese Frau verwirrt Casa und leise Zweifel beginnen an seiner seit seiner Kindheit andauernden Gehirnwäsche durch die Taliban zu nagen. "Er will wieder zurück in den Kriegszustand. Schon wegen der Klarheit, die damit verbunden ist."..."Es folgt eine Strafe für Männer wie ihn, die sich von irdischen Dingen ablenken lassen. Allah wird ihn – jetzt gleich – zerschmettern."
Als Gul Rasools Leute Dunia entführen, sucht er sie. Er weiß, die Entführung bedeutet ihren sicheren Tod. Auf diesem Weg wird er, der unerschrockene Taliban, der kein Erbarmen kennt, vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben durch ein Erlebnis bis ins tiefste Innere seiner Seele erschüttert. Auch David will Dunia finden und retten, selbst wenn er damit sein Leben und das von Casa gefährdet.

AVIVA-Tipp: Dies Buch ist traurig, erschütternd, beängstigend, zugleich poetisch und mit großem Sachverstand und Einfühlungsvermögen geschrieben. Es ist eines der wichtigsten, das in Deutschland in den letzten Jahren erschienen ist. Wer es gelesen hat, wird die Nachrichten über Afghanistan mit anderen Augen und Ohren vernehmen, wird verstehen, wie es zu der ungeheuerlichen Macht der Taliban kommen konnte und wird auch die Hilflosigkeit nachvollziehen können, mit der die Politik versucht, zu retten, was vor einhundert Jahren noch hätte gerettet werden können. Es sind die Stimmen von Aslam und anderen mutigen AutorInnen, die nicht nur in unserem Land von Politikern gehört werden müssen.

Zum Autor: Nadeem Aslam wurde 1966 in Gujranwala, Pakistan geboren, musste das Land wegen des Widerstands seines Vaters gegen das Zia-Regime als Jugendlicher verlassen, studierte in England Biochemie und Literatur und lebt heute in London. Für seinen Romanerstling "Season of the Rainbird" (1993) wurde er mit dem Betty Trask Award ausgezeichnet, für "Atlas für verschollene Liebende" u.a. mit dem Kiriyama Pacific Rim Prize 2005. (Quelle: Rowohlt Verlag)

Nadeem Aslam
Das Haus der fünf Sinne

Rowohlt Verlag, 1. Auflage Januar 2010
Originaltitel "The Wasted Vigil" erschienen 2008 bei Faber & Faber in London
Ãœbersetzt von Bernhard Robben
Gebundene Ausgabe, 459 Seiten
ISBN: 978-3498000776
19,95 Euro

Zum Hintergrund des Romans

Afghanistan, weitaus länger im Kriegszustand als in den Medien gemeinhin berichtet wird, wurde bereits um 1832 durch den anglo-afghanischen Krieg in das "Great Game" verwickelt, wie der erbitterte Streit zwischen Großbritannien und der Sowjetunion um die Vorherrschaft in Zentralasien genannt wird. Das erst 1747 gegründete Afghanistan zerbrach schon bald danach und ist seitdem nicht mehr zur Ruhe gekommen. Um die afghanische Bevölkerung ging es dabei nie. Sie lebte nur zufällig und unglücklicherweise in diesem Teil der Welt.

Als die Sowjetunion 1979 Afghanistan überfiel, unterstützen Amerika, Pakistan und Saudi - Arabien die Mudschaheddin, die nach der Niederlage der Sowjetunion und ihrem Abzug 1989 das Land in einen brutalen Bürgerkrieg stießen, der bis 1995 andauerte. Sofort danach eroberten die Taliban von Pakistan aus das völlig zerrüttete und traumatisierte Land und setzen die Traumatisierungen bis heute fort.


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Auszeichnung: UNICEF-Foto des Jahres 2007 von Stephanie Sinclair

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Literatur

Beitrag vom 10.02.2010

AVIVA-Redaktion