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Beitrag vom 22.01.2010
Litt Leweir - Migräne
Adriana Stern
Migräne ist das Mittel, das die Autorin wählt, um Realität und Phantasie in diesem packenden Thriller gekonnt zu verwischen. Bis zum Schluss ist unklar, was wirklich geschieht und was sich nur ...
... in der Vorstellung der beiden ProtagonistInnen abspielt. Real ist "lediglich" ein Mord in einem ganz normalen Mietshaus.
In einem außergewöhnlich heißen Sommer geschieht ein Mord in einem Berliner Mietshaus, in dem die Hauptfiguren Toni und Joshua leben und arbeiten. Die beiden teilen nicht nur die gemeinsame Anschrift, sondern leiden auch an Migräne, die bei ihnen so stark ausgeprägt ist, dass sie immer wieder zu Halluzinationen führt, die sich am ehesten als albtraumhafte Sinneswahrnehmungen beschreiben lassen.
Die Geschichte wird abwechselnd aus der Sicht von Toni und Joshua erzählt und beginnt mit Toni, die wieder einmal unter einem Migräneanfall leidet und der deswegen alles zuviel ist: Das grelle Licht der Sonne, die Hitze, ihre Arbeit, vor allem aber der Räucherstäbchenduft aus einer Hebammenpraxis und der Lärm, der ebenfalls aus dieser Praxis kommt. Schon auf Seite zwölf bringt die Autorin Tonis Lebensthema auf den Punkt. "Und Sol kommt heute Abend nicht nach Hause. Sie wird auch morgen nicht nach Hause kommen... Ich will jetzt nicht traurig sein... Ich will eine leise, duftlose, dunkle Welt ohne Kloß."
Sol, ihre Partnerin, ist neun Monate zuvor gestorben und Toni kommt über ihren Verlust einfach nicht hinweg. Doch was genau mit Sol geschah und warum ihre beiden Katzen die Namen von Ärzten tragen, erfahren wir erst im Laufe der nächsten 500 Seiten, auf denen die Autorin ein brillante, tiefgreifende und hochspannende Persönlichkeitsstudie entwirft, die die Leserin fesselt und nicht mehr loslässt.
Das gleiche gelingt Litt Leweir auch mit der zweiten Hauptperson, Joshua, einem Psychotherapeuten, der selbst ganz dringend einer Behandlung bedürfte, so sehr verliert er sich in wahnsinnigen, nervenzerreibenden seelischen Abgründen, die im Laufe des Romans immer erschreckendere Ausmaße annehmen. Auch Joshua geht es gar nicht gut, seit er sich von Ruth getrennt hat, mit der er 25 Jahre verheiratet war, um mit Brigitte zu leben, die einen Sohn mit ihm hat. Er hängt an dem Sohn, ist sich aber bei der Mutter nicht so sicher. Er fühlt sich von Brigitte kontrolliert, eingeschränkt und permanent gemaßregelt und trauert seiner Freiheit in der Beziehung zu Ruth nach.
Der Thriller beginnt, als der Schwiegersohn der Hebamme erschossen in der Praxis aufgefunden wird. Er ist es, der die MieterInnen ständig mit unerträglicher Musik belästigte. Aber ist das schon genug Motiv für einen Mord?
Das fragt sich Toni, die wegen der ständigen Lärmbelästigung tatsächlich an Mord gedacht hat und auch Joshua beschäftigte der gleiche Gedanke, wobei beide die Hebamme im Kopf hatten und nicht ihren Schwiegersohn, den sie gar nicht kannten. Aber Gedanken allein können doch nicht töten, oder doch?
Der Mord an dem Schwiegersohn bringt die Polizei ins Haus und mit ihr die Hauptkommissarin Monika Haberstroh, die sich sehr schnell in Toni verliebt, was ihren Kollegen mehr als nervös werden lässt. Denn Antonia Becker ist nicht nur eine Zeugin, sondern gleichermaßen eine dringend Tatverdächtige.
Auch Toni verliebt sich zögernd und mit vielen Widerständen in Monika Haberstroh, doch ihre Verliebtheit stürzt sie gleichzeitig in verzweifelte, hoffnungslose Gefühle der verstorbenen Sol gegenüber. Immer wieder sieht Toni Sol vor sich, wenn sie einen erneuten Migräneanfall hat, und Sol scheint mit Tonis Verliebtheit nicht einverstanden. Tonis Qualen verschärfen sich so sehr, dass sie sich irgendwann sinnlos besäuft und hofft, daran zu sterben.
Das Drama um die beiden Hauptfiguren spitzt sich dramatisch zu, als zeitgleich mit dem Mord an dem jungen Mann eine neue Mieterin, die auf geheimnisvolle Weise plötzlich auftaucht und wieder verschwindet, in ihr Leben tritt. Diese Frau verwickelt die beiden in sexuelle Handlungen, die sowohl von Joshua als auch von Toni mit zwiespältigen Gefühlen aufgenommen werden.
Joshua reagiert auf jede weitere Begegnung mit ihr mit zunehmend härterer Gewalt und auch Toni wird der neuen Mieterin gegenüber immer aggressiver, bis es bei beiden zu einer Vergewaltigung dieser Frau kommt.
Das Mietshaus wird parallel zu den Abgründen in Joshuas und Tonis Seelenleben zu einem immer mysteriöseren, dunkleren und verwahrlosten Ort, in dem es von Tag zu Tag mehr stinkt, weil im Keller angeblich Ratten getötet und nicht entfernt wurden.
Joshua bringt die Vergewaltigung in immer größere seelische Abgründe, die bis zu Mordgedanken Toni und der Kommissarin gegenüber reichen, von denen er glaubt, sie würden ihm die Vergewaltigung nachweisen und ihm daraufhin seinen Sohn wegnehmen können. In seinem verzweifelten inneren und äußeren Herumirren trifft er auf den Steuerberater Martin Geiger, der ihn aufnimmt, als Brigitte ihn vor die Tür setzt, weil er auch auf sie immer aggressiver reagiert. Martin Geiger erweist sich als der einzige ruhende Pol in der weiteren Handlung.
In einem rasanten Tempo führt uns die Autorin immer tiefer in die Seelenqualen ihrer beiden ProtagonistInnen, lässt uns an ihren Gedanken und Gefühlen teilhaben, die zwar wahnsinnig, aber gleichzeitig auch absolut nachvollziehbar erscheinen.
AVIVA-Tipp: Es ist ein harter Stoff, dem sich Litt Leweir hier angenommen hat. Es geht darum, was nicht verarbeitete Traumata in der Seele eines Menschen anrichten können. Und es geht um Mord, Pornografie, abgestumpften und brutalen Sex, Gewaltphantasien und Vergewaltigung sowohl durch einen Mann als auch durch eine Frau.
Gefühle, Gedanken und Handlungen zu beschreiben, die in der LeserIn mit Sicherheit auf Irritation, Abwehr und Unverständnis stoßen, ist sicher eines der schwierigsten Unterfangen für eine Autorin. Doch Litt Leweir gelingt, was sie sich vorgenommen hat. Ihre Beschreibungen sind rundum gelungen, glaubwürdig und authentisch. Kurzum: Eine empfehlenswerte Lektüre.
Zur Autorin: Litt Leweir Jahrgang 1962, geboren und aufgewachsen unweit von Freiburg, lebt seit 1984 in Berlin. Brotberuf Sekretärin. Veröffentlichungen in Anthologien. Weitere Infos und Kontakt:
www.littleweir-texte.de
(Quelle: Konkursbuchverlag und Autorinnenhomepage)
Litt Leweir
Migräne
Konkursbuchverlag, erschienen August 2009
Broschiert, 510 Seiten
ISBN-13: 978-3887697310
12,90 Euro
www.konkursbuch.com
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