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Beitrag vom 28.11.2009
Amos Oz – Geschichten aus Tel Ilan
Adriana Stern
Amos Oz gewährt uns einen intimen Blick in die Innenwelten seiner Figuren, in die Abgründe ihrer Seelen, ihrer Ängste und Alpträume, aber auch in die Tiefen ihrer Sehnsüchte, Hoffnungen und Träume.
Die acht Geschichten in diesem Band werden voneinander unabhängig erzählt und doch nicht ganz, denn die Hauptfiguren in der einen Erzählung werden zu Rand- oder Nebenfiguren in einer der anderen. Sie alle spielen in einem kleinen fiktiven Dorf irgendwo in Israel, wenige Busstunden von Tel Aviv entfernt. Wir erfahren weder, wie groß dieses Dorf ist, noch wo es tatsächlich liegt. Es spielt keine Rolle, ebenso wenig wie der genaue Zeitpunkt, zu dem die Geschichten spielen.
Die Stimmung in den Straßen des Dorfes und in den Häusern ist im Sommer wie im Winter seltsam surrealistisch, und auch die beschriebenen Ereignisse wirken irreal und der Wirklichkeit seltsam entrückt. Alle Geschichten enden abrupt und hinterlassen offene Fragen.
Eine tiefe Melancholie bestimmt die Handlungen und Gedanken der Figuren. Alle BewohnerInnen des Dorfes scheinen gefangen in ihren eigenen, hermetisch abgeriegelten Welten, nicht fähig zu wirklicher Begegnung und Kommunikation mit anderen.
Das Leben der ProtagonistInnen ist gekennzeichnet durch Trennung, Scheidung, Verlust, Tod, das plötzliche Verschwinden des Ehepartners, den Selbstmord des 16 jährigen Sohnes unter dem Bett seiner Eltern, die ihn erst Tage später dort finden, durch Einsamkeit, die Unfähigkeit, schwanger zu werden oder der eigenen Sehsucht zu folgen und den Ort zu verlassen. Nach Jerusalem, Haifa, Tel Aviv oder weiter weg zu ziehen, um dort ein neues, besseres Leben zu finden.
Die Figuren in Oz neuem Buch sind Gefangene ihrer Routine, ihres banalen Alltags, ihrer Lebenswelten, all der unausgesprochenen Gedanken, Fragen, Sehnsüchte und Träume. In dieses Leben bricht plötzlich eine subtile Form gewaltsamer Veränderung ein. Etwas, das fremd und doch nicht wirklich fremd, sondern vielmehr unheimlich vertraut scheint.
So ergeht es Arie Zelnik, einem einsamen Mann, der von seiner Frau und dem ältesten Sohn verlassen wurde und sich jetzt am Rande des Dorfes um seine Mutter kümmert. Die Beiden leben in stiller und friedlicher Übereinkunft nebeneinander her, in ihren eigenen Welten und einer Ruhe verharrend, die doch keine ist. Diese Ruhe wird plötzlich durch einen Fremden erschüttert, der vorgibt kein Fremder zu sein, und wirklich... Etwas an ihm wird im Laufe der Handlung zunehmend beängstigend und verstörend vertraut.
Ähnlich ergeht es auch der Ärztin Gili Steiner, die einsam, allein und voller verlorener Sehnsucht auf ihren Neffen wartet, zu dem sie eine zwiespältige Beziehung hat. Eine Beziehung, gleichermaßen geprägt von Liebe und immer wieder aufbrechender Gewalttätigkeit ihrerseits diesem Kind gegenüber, das still und eigenbrötlerisch seine eigenen Träume träumt. Inzwischen ist der Neffe erwachsen und die beiden verbindet die schweigende Übereinkunft, das Geschehene nicht zu berühren und einander ohne Sprache nah und gleichzeitig unendlich fern zu bleiben.
Auch Pessach Kedem, Abel und Rachel Franco in der dritten Geschichte wohnen am Rande des Dorfes. Sie sind Gefangene der täglichen Kommunikations- und Handlungsroutine, in der sie einander fremd bleiben, miteinander zwar reden, aber einander doch nicht wirklich etwas mitteilen. Selbst dann nicht, als Abel und Pessach Kedem zutiefst beunruhigende, scharrende Geräusche unter dem Haus bemerken, die auch Rachel nicht verborgen bleiben.
In der vierten Geschichte erhält Ben Avni, der Bürgermeister, einen Zettel von seiner Frau. "Mach dir um mich keine Sorgen" schreibt sie. Plötzlich ist sie verschwunden und er versucht, dennoch alles genauso zu machen wie immer. Doch das gelingt ihm nicht.
Die Geschichten in diesem Buch sind nicht nur verbunden durch die Figuren, die einander wechselseitig wieder begegnen, sondern auch durch immer wiederkehrende Motive, die das Dorf lebendig, real und hautnah spürbar werden lassen. Da ist die Bank im Gedenkpark, das Rathaus, der alte Wasserturm, die Zypressen, Weinberge, das Wäldchen, das Leben am Dorfrand, die verschiedenen Gärten und bellende Hunde im Streit mit heulenden Schakalen, beinahe, als wäre sie die einzigen Lebewesen, die wirklich ein Gespräch miteinander versuchten. Und da sind die wechselnden Jahreszeiten, der Wind, der Nebel, der Regen, die Kälte, die Hitze und der menschliche Schweiß.
Wir nehmen Anteil am Leben der Figuren, die offen gebliebenen Fragen beschäftigen uns weiter. Wo ist der Neffe? Was ist aus der Frau des Bürgermeisters geworden? Was bedeutet das nächtliche Scharren unter dem Haus von Rachel Franco? Und wird der 17 jährige Kobi Esra jemals über seine Schuld- und Schamgefühle der 30 jährigen Ada Honig gegenüber hinwegkommen? Wer ist der seltsame, vertraute Fremde aus der ersten Geschichte wirklich? Und wie wird sich die surreale Begegnung des Immobilienmaklers Sasson mit der Tochter des berühmten Shoah-Schriftstellers Eldad Rubin auf das weitere Leben der Beiden auswirken?
Selbst die vorletzte Geschichte, in der sich viele der ProtagonistInnen im Hause der Levins endlich begegnen, bringt die Menschen einander nicht wirklich nah. Sie bleiben seltsam distanziert und in ihren Geheimnissen, ihrem Schweigen, ihren Schicksalen gefangen.
Die letzte Geschichte spielt An einem fernen Ort zu einer fernen Zeit wie Amos Oz in der Ãœberschrift schreibt.
Wie viel von diesem Ort, der einer Hölle gleicht, ist in Tel Ilan schon unbemerkt Wirklichkeit geworden? Wird es den BewohnerInnen trotz ihrer Geheimnisse, ihres Schweigens, ihrer Scham- und Schuldgefühle gelingen, eine solch bedrohende, apokalyptische Zukunft, wie Oz sie zum Schluss entwirft, zu verhindern?
AVIVA-Tipp: Etwas geheimnisvoll, melancholisch bedrückendes haftet den berührenden Geschichten aus Tel Ilan an, ohne dass sie je Gefahr laufen, ins Depressive oder Hoffnungslose abzurutschen.
Die Erzählungen stimmen nachdenklich, traurig und obwohl sie fremd wirken, erscheinen sie im gleichen Atemzug beunruhigend vertraut. Mit wenigen, wiederkehrenden Bildern, die er wie mit gezielten, präzise gewählten Pinselstrichen vor unseren Augen entstehen lässt, schafft Amos Oz eine intensiv spürbare Umgebung und gelingt es ihm, die LeserInnen in den Bann seiner Erzählung zu ziehen.
Es sind nicht die großen Ereignisse, die das Leben der Protagonisten aufwühlen. Es ist "nur" ein Neffe, der nicht kommt, ein seltsames Graben unter dem Haus, ein kleiner Zettel mit einer beunruhigend beruhigenden Nachricht, die unerreichbare Liebe eines 17 Jährigen, eine einsame Spurensuche nach einem Jugendlichen, der sich Jahre zuvor das Leben nahm. Vielleicht kommen uns die Geschichten deshalb so nah, gehen deshalb so unter die Haut.
Zum Autor: Amos Oz wurde am 4. Mai 1939 als Amos Klausner in Jerusalem geboren und wuchs auch dort auf. Seine Eltern waren 1917 von Odessa nach Wilna (damals Polen) geflüchtet und wanderten von dort nach Palästina aus. 1954 trat er dem Kibbuz Chulda bei und nahm den Namen Oz an, der auf hebräisch Kraft, Stärke bedeutet. Von 1960 bis 1963 studierte er Literatur und Philosophie an der hebräischen Universität in Jerusalem und kehrte nach seinem Bachelor-Abschluss in den Kibbuz zurück und lehrte bis 1986 Literatur und Philosophie an der Oberschule Hulda.
Seit dem 6-Tage-Krieg war er in der israelischen Friedensbewegung aktiv und befürwortete eine Zwei-Staaten-Bildung im israelisch-palästinensichen Konflikt. Er ist Mitbegründer und Vertreter der seit 1977 bestehenden Friedensbewegung Schalom achschaw (Peace now). Seit 1987 lehrt er Hebräische Literatur an der Ben-Gurion Universität von Negev, Beesheba. Die Werke von Amos Oz wurden in 37 Sprachen übersetzt. Er hat zahlreiche Preise und Auszeichnungen erhalten. (Quelle: Suhrkamp-Verlag)
Zur Übersetzerin: Mirjam Pressler wurde 1940 in Darmstadt geboren. Sie studierte in Frankfurt am Main .an der Akademie für Bildende Künste und lebt heute als freie Autorin und Übersetzerin in der Nähe von München. Sie übertrug mehr als 300 Titel aus dem Hebräischen, dem Englischen, Niederländischen, Flämischen, sowie Afrikaans ins Deutsche, darunter eine Neuübersetzung der Tagebücher von Anne Frank. ( Quelle: AVIVA-Berlin)
Weitere Infos und Kontakt unter: www.mirjampressler.de
Amos Oz – Geschichten aus Tel Ilan
aus dem Hebräischen von Miriam Pressler
Originaltitel: Tmunot me-chajej ha-kfar
Verlag Suhrkamp
Erschienen: 21.09.2009
Gebunden, 187 Seiten
ISBN: 978-3-518-42067-6
16,80 Euro
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