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AVIVA-BERLIN.de im Dezember 2024 - Beitrag vom 18.10.2009


Emmanuelle Pagano - Die Haarschublade
Sabine Grunwald

Der schmale Band erzählt in einer sparsamen sinnlichen Prosa die Glücksmomente eines scheinbar verpfuschten Lebens der jungen Protagonistin in ihrem Geburtsort, einem kleinen französischen Dorf




Bei der Geburt ihres ersten Kindes ist die Ich-Erzählerin erst fünfzehn. Sie bricht die Schule ab und überlässt die Betreuung ihres Kindes den Großeltern. Ihr unstetes Leben und der Ausbruch aus dem engen Zuhause endet mit einer zweiten Schwangerschaft, seitdem arbeitet sie als Aushilfe in einem Friseursalon und zieht ihre beiden Söhne alleine groß.

"Ich mag Haare, selbst fettiges, sprödes, dickes Haar. Mattes, seidiges, geschmeidiges, feuchtes Haar. Ich befühle gern Haare. Sehe mir ihre Beschaffenheit, ihre Farbe, ihre Textur genau an. Und nähere mich den Köpfen von hinten, von der Seite. Ich folge gern den überraschenden Bewegungen der Locken. Rieche heimlich an ihnen."

Durch ihre Arbeit fühlt sie sich nützlich und lenkt sich ein wenig ab von der anstrengenden Betreuung ihres behindert zur Welt gekommenen ersten Sohnes Pierre, der eingeschlossen in seiner eigenen engen Welt sich nur durch Murren artikuliert.

Durch knappe, sparsame Worten ermöglicht es uns die Autorin, das harte Alltagsleben der Erzählerin, ihr ambivalentes Verhältnis zu ihrem behinderten Kind, dessen Möglichkeiten so eingeschränkt sind, zu teilen.

"Ab und zu starre ich ihn an, nur so, man weiß ja nie, aber wenn ich seinen Augen begegne, senke ich meine, weil sein nackter Blick mich einsam macht…Ihn auf dem großen Tisch abzutrocknen, macht mir Spaß…um ihn mit süßem Mandelöl und Calendula einzureiben, langsam, so langsam, dass ich den Eindruck habe, etwas in ihm zu berühren, seinen Rhythmus zu streicheln."

In Rückblenden erfahren wir nach und nach mehr von dem eingeschränkten Leben in dem kleinen südfranzösischen Dorf, dem Versuch, diesem Leben in der Gendarmeriebrigade, wo der Vater arbeitet, und Höflichkeit, Pünktlichkeit und Sauberkeit die höchsten Tugenden sind, zu entkommen.

Emmanuelle Pagano, die am 29. September 2009 den europäischen Literaturpreis erhalten hat, beschreibt in der Rolle als freundlich grüßende aber unbeteiligte Nachbarin, die mit ihrem Buch auf der Treppe sitzt, dieses von außen gesehen verpfuschte Leben einer jungen Frau, deren Revolte gegen die bedrückende soziale Enge im Außenseitertum und der Einsamkeit endet. Doch verliert die beklemmende und tragische Geschichte der Protagonistin durch die wachsende emotionale Bindung zu ihren beiden Kindern nach und nach an Schrecken. Der scheinbare Fatalismus wandelt sich in eine Erzählung, in der wir zu der Protagonistin ein beinahe liebevolles Verhältnis aufbauen können, ihre Stärke bewundern lernen und mit ihr die kleinen glücklichen Momente in ihrem Leben teilen.

Zur Autorin: Emmanuelle Pagano wurde 1969 im Département Aveyron geboren, studierte Filmwissenschaft und –ästhetik. Sie lebt noch immer im Süden Frankreichs und ist Mutter dreier Kinder. Sie hat fünf Romane veröffentlicht und für ihre einzigartige, sinnliche écriture in Frankreich bereits mehrere Preise erhalten.
Zur Übersetzerin: Nathalie Mälzer-Semlinger ist Literaturwissenschaftlerin und lehrt an verschiedenen Universitäten. Sie hat u.a. Romane von Yann Apperry, Michèle Lesbre und Sylvain Trudel übersetzt. (Verlagsinformation).

AVIVA-Tipp: Die Haarschublade – kongenial übersetzt von Nathalie Mälzer-Semlinger – ist ein kleiner Glücksfall. In sparsamen präzisen Worten erschließt dieses Buch uns die Welt einer jungen Frau, deren Leben verpfuscht scheint, der es aber dennoch gelingt, sich ihre Inseln der persönlichen Zufriedenheit zu schaffen und ihre eigenen Entscheidungen zu treffen.


Emmanuelle Pagano
Die Haarschublade

(Originaltitel: "Le tiroir à cheveux")
Aus dem Französischen von Nathalie Mälzer-Semlinger
Klaus Wagenbach Verlag, erschienen 2009
144 Seiten
ISBN 978-3-8031-3224-6
16,90 Euro

Lesen und hören Sie das Interview mit Emmanuelle Pagano von Irene Binal auf DeutschlandRadioKultur anlässlich der Verleihung des Europäischen Literaturpreises:

www.dradio.de


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Beitrag vom 18.10.2009

Sabine Grunwald