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Beitrag vom 03.09.2009
Terézia Mora - Der einzige Mann auf dem Kontinent
Claire Horst
Als europäischer Alleinvertreter einer Netzwerkfirma ist Darius Kopp vollkommen auf sich gestellt. Dass seine Verkaufszahlen ein Witz sind, stört zunächst niemanden – denn es bekommt niemand mit.
Seine Kollegen bei der Firma "Fidelis Wireless" sind über die ganze Welt verstreut, und ans Telefon bekommt er sie eigentlich nie. Fast wie Kafkas Figuren befindet Kopp sich in einem surreal leeren Raum, und man fragt sich beim Lesen bisweilen, ob seine Arbeitgeber überhaupt existieren. In dem Chaos, das Kopp um sich herum aufgebaut hat, bricht seine Welt langsam auseinander. Für seine Frau Flora hat er kaum Zeit, Aufträge gehen ihm verloren, und selbst große Summen Bargeld verliert er zwischen den leeren Kartons in seinem verstaubten Büro.
Denn paradigmatisch für so viele HeldInnen der digitalen Welt ist auch Darius Kopp überfordert von dem großartigen Angebot des Informationszeitalters. Wer kennt das nicht, eigentlich wollte man im Netz recherchieren, einen Text zu Ende schreiben, und stattdessen bleibt man an Schlagzeilen hängen:
"Isolierter Indianerstamm im brasilianischen Dschungel entdeckt./ Zahl der Armen schrumpft auf 1,4 Milliarden./ Seaman fürchtet feindliche Übernahme./ Kim-Jong-Ils Abwesenheit irritiert Freunde und Feinde./ Berliner Sechslinge kuscheln schon mit Mama und Papa." Einen derart verbrachten Arbeitstag beschließt Kopp gewöhnlich im Restaurant, wo er selbst den Schaum auf seinem Cappuccino bis zum letzten Tropfen genießt.
Wie Abel Nema, die Hauptfigur von Terézia Moras preisgekröntem Roman "Alle Tage", ist auch Darius Kopp ein Eigenbrötler. Regelmäßig verspätet holt er seine Frau in der Strandbar ab, wo sie arbeitet, manchmal geht er mit Freunden trinken, die eher Bekannte sind, und einmal in der Woche führt er sein Pflichttelefonat mit Mutter und Schwester. Kopp, der Flora eigentlich sehr liebt – er empfindet sie als Teil seiner selbst - , der auch seine Arbeit gut machen möchte und im Prinzip von seinen Fähigkeiten überzeugt ist, hat sich immer als Gewinner empfunden. Als DDR-Bürger hat er nach der Wende den Aufstieg geschafft. Doch seitdem ist nicht mehr viel passiert. Trotz aller Anstrengung dreht er sich im Kreis. In seinem Büro stapeln sich "Haufen von Zeitschriften, Prospekten, Plänen, Protokollen, Briefen, Memos, Rechnungen, Visitenkarten. Dazwischen überall Zettel. Die wenigsten gepinnt, die meisten gestapelt, gelegt, geworfen, gerutscht, geknüllt, Schrift verblasst oder unleserlich oder man bringt den Zusammenhang zwischen den Stichworten nicht mehr heraus."
Dass ein einziger Kunde innerhalb eines Jahres einen Teil seiner Rechnung bezahlt, macht es nicht besser. Die 40.000 Euro, die der mysteriöse "Armenier" bar zahlt, beschäftigen Darius Kopp fast eine ganze Woche lang und damit fast den gesamten Roman hindurch. Denn Mora beschränkt sich auf die Darstellung einer einzigen Woche im Leben eines Menschen im digitalen Zeitalter. Dass sie dabei ständig die Perspektive wechselt, einmal aus den Augen ihres Protagonisten blickt und seine Gedankenströme verfolgt, dann wieder Betrachtungen über ihn anstellt oder die Gedanken seiner Frau Flora (die wie die Autorin aus Ungarn stammt) nachvollzieht, macht den Roman so aussagekräftig. Wie James Joyces "Ulysses" oder Robert Musils "Mann ohne Eigenschaften" wird "der Alltag eines Menschen so zum Porträt einer ganzen Epoche.
Ein merkwürdiger Protagonist ist dieser Darius Kopp. Sympathisch ist er, weil er ebenso konfus, faul und schlecht organisiert ist wie wir alle an unseren schlechtesten Tagen, weil er seine Frau liebt und einfach mit ihr glücklich sein will. Auf Distanz hält er uns dennoch, denn diese Entfernung ist Teil seiner Persönlichkeit. Abgeschottet hinter seinem kugelrunden Bauch, hält er sich die Welt durch eine Fettschicht vom Leib. Denn eigentlich will er mit alldem gar nichts zu tun haben. Lieber will er daran glauben, dass seine Welt in Ordnung ist, dass alles ins Reine kommt. Und so schmiedet er tagelang Pläne, überdenkt Szenarien, was alles sein könnte, wenn nur...
Und landet dann doch wieder bei sinnlosen, zeitschindenden Aktionen: "Er bügelte und sah dabei sinnlos fern. Später, nachdem das Bügeln beendet war, holte er sich noch einen Whisky und setzte sich auf das Sofa. Wie man nicht aufhören kann, immer und immer wieder von vorne durch zu zappen, obwohl nichts kommt. Vor allem sah er gar nicht hin, er sah den Bildschirm selbst an. Das Problem war schon einige Wochen alt, bis jetzt hatte er darüber hinweggesehen, um sich nicht ärgern zu müssen. In der Mitte des Bildschirms waren zwei dunkle Streifen entstanden, als wäre er gewellt, wie eine schlecht gespannte (alte) Kinoleinwand. Ich habe Funkmechaniker gelernt, mit Röhrenfernsehern, die heute kein Mensch mehr benutzt, dennoch, so viel war ihm klar: von einer Reparatur konnte nicht die Rede sein. Das teure Scheißding war kaputt. Es muss ein neuer her."
AVIVA-Tipp: Terézia Mora ist ein Zeitgemälde gelungen, ein glasklar beobachteter Text über das Leben in Europa am Anfang des 21. Jahrhunderts. Von den großen Katastrophen der Welt verschont (von diesen erfährt Kopp aus sicherer Entfernung, im Café sitzend über sein Laptop gebeugt), kämpft ihre Figur mit den Tücken des Alltags, gegen die Bedeutungslosigkeit und um ihr eigenes kleines Glück. Ein erstaunlicher, berührender Roman.
Zu der Autorin: Terézia Mora wurde 1971 in Sopron, Ungarn, geboren. Sie lebt seit 1990 in Berlin und gehört zu den renommiertesten Übersetzerinnen aus dem Ungarischen. 1999 sorgte sie mit ihrem literarischen Debüt, dem Erzählungsband "Seltsame Materie", für Furore. Für diese Erzählungen wurde sie mit dem Open-Mike-Literaturpreis, dem Ingeborg-Bachmann-Preis (1999) und dem Adelbert-von-Chamisso-Förderpreis (2000) ausgezeichnet. 2004 erschien der Roman "Alle Tage", der ausnahmslos von der Kritik gelobt wurde und großen Anklang bei den LeserInnen fand. Für den Roman erhielt sie den Mara-Cassens-Preis für das beste Roman-Debüt des Jahres, den Kunstpreis Berlin, den LiteraTour-Nord-Preis und den Preis der Leipziger Buchmesse. (Quelle: Luchterhand Literaturverlag)
Weitere Infos und Kontakt: www.tereziamora.de
Terézia Mora - Der einzige Mann auf dem Kontinent
Originalausgabe
Luchterhand Literaturverlag, erschienen August 2009
Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 384 Seiten, 13,5 x 21,5 cm
ISBN: 978-3-630-87271-1
21,95 Euro
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