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AVIVA-BERLIN.de im Dezember 2024 - Beitrag vom 24.07.2009


Nejusch - Die Hand der Miriam. Mit Bildern von Janina
Jürgen Müller-Hohagen

Eine Mutter erzählt ihrer Tochter ein Märchen. Die Tochter malt Bilder dazu. Schließlich veröffentlicht die Mutter alles zusammen als Buch, auf Deutsch und Englisch. Der Titel der limitierten...




...bibliophilen Ausgabe lautet "Die Hand der Miriam". Dazu passt ganz am Anfang eine kleine Zeichnung mit drei sich leicht berührenden Händen. Darunter findet sich als Motto: "Das Glück hat mich umarmt".

Ein den schönen Seiten des Lebens zugewandtes, eher harmloses Buch also? frage ich mich. Das mag der Eindruck beim ersten Durchblättern sein. Sehr ausdrucksvolle abstrakte Bilder treten hervor, mal kräftig, mal sanft in den Farben, vielfältig, voll von Tiefe und Bewegung, leicht und geheimnisvoll zugleich, aber auch erschreckende Töne, Dunkles, Spitziges. Werke eines Kindes? frage ich mich. Hier komme ich ins Stolpern.

Die Erzählerin nennt die Aquarelle der Tochter "intuitive Stimmungsbilder, mit denen sie spontan auf das Märchen reagierte". Am Ende der Einleitung heißt es dann: "Die Bilder meiner Tochter werden von mir gelobt, nicht gedeutet. Das schafft Vertrauen." Hier stolpere ich zum zweiten Mal. Stimmt etwas nicht? Was nur?

Das Märchen handelt von einer Frau und "ihrer hübschen Tochter". Die Mutter sinkt in einen Schlaf der Erschöpfung, fliegt im Traum mit ihrem Bett durch die Nacht. Das alles verwandelt sich in eine dunkle Wolke mit einem griesgrämigen Geist voller Zorn. Ein Geist auf einem fliegenden Teppich, der uns allerdings eher nicht ängstigt, sondern neugierig und auch mitfühlend macht, so sehr friert er in dem eisigen Schneesturm ringsherum. Dann kommt es zu einer überraschenden Wendung: Ein Wunderrabbi schaut in den Himmel und fängt mit seinem Schmetterlingsnetz "den umherirrenden Traumgeist" ein, der misstrauisch abwehrend ist und dabei dennoch so sehr suchend. Der Rabbi betrachtet den Geist und lässt nicht locker: "Ich sehe die widerstreitenden Gefühle einer Mutter hinter deinen Pupillen aufleuchten, die mit ihrer Tochter auf der Erde wohnt und die sich vom Glück des Lebens abgewendet hat."

Das erklärt – und lässt mich erneut stolpern. Das Märchen, das die Mutter ihrer Tochter erzählt und zu dem diese ihre Bilder gemalt hat, handelt also von einem inneren Monolog der Mutter. "Warum macht sie das so?" frage ich mich.
Dann wird klar: "Vier Jahre alt war das Mädchen, als die Mutter sich eingestanden hatte, dass es anders als die anderen Kinder in seinem Alter war, dass mit ihm etwas nicht stimmte. ´Ihr Kind ist autistisch´, diagnostizierte ein Arzt, ´es wird nie sprechen und nie allein leben können.´ In diesem Augenblick war ihre einstige Welt zerbrochen."
Jetzt ist es völlig klar: Es geht um ein Kind mit Autismus. Und um seine Mutter. Um sie beide.
Davon also handelt dieses episch schön erzählte Märchen.

Es ist ein Märchen, das keines ist und dann auf einer anderen Ebene doch gerade wieder nichts anderes als ein Märchen im besten Sinne. Und dann sind es genau die verschiedenen Stolpersteine des ersten Lesens, die zum Schlüssel für ein tieferes Verständnis führen können und ahnen lassen, was es heißen mag, Mutter eines Kindes mit Autismus zu sein – oder besser: es zu werden, ein lebenslanger Weg.

Und vielleicht geht uns beim Betrachten der Bilder und beim Hin- und Herschauen zwischen ihnen und dem Text im Ansatz auch etwas auf von dem, wie die Welt der Tochter sich anfühlen mag. Wovon wir auf jeden Fall ZeugIn werden, ist das Ringen um Beziehung zwischen Mutter und Tochter.
Wie das im Einzelnen aussieht, lässt sich nicht einfach in beschreibende Worte fassen. Es schwingt auf kunstvolle Weise zwischen den Zeilen, zwischen Bildern und Worten, zwischen den verschiedenen Ebenen. Viel Beunruhigendes ist da – und gleichzeitig begegnen wir auf den Seiten gegenüber dem Text den kräftigen und sicheren Farben und Formen der Bilder. Als würde die Tochter ausdrücken wollen: "Sorg Dich nicht zu sehr!"

So könnte es sein, oder auch nicht, das bleibt offen. Klar aber ist auf jeden Fall, dass die Mutter im Laufe dieses hier wiedergegebenen verwickelten Weges mehr zu sich selber findet, und dies in Gemeinsamkeit, in Austausch mit der Tochter.
Es ist ein Weg, der durch große Schmerzen führt.
Er berührt Tabus, persönliche und gesellschaftliche. Darf die Mutter eines Kindes mit Behinderung Enttäuschung und Angst empfinden und es auch noch ausdrücken und dann sogar gegenüber dem Kind selber?
Ja, das ist geradezu ein notwendiger Weg, der aber immer noch viel zu selten gegangen wird. Solche vermeintlich tabuisierten Gefühle ständig zu vermeiden, heißt letztlich, sich in die innere und äußere Isolation zu begeben. Dann können aber auf der anderen Seite auch nicht Freude und Glück empfunden, kann nicht gelebt, sondern nur funktioniert werden, wird letztlich das eigene Leben aufgegeben, beider Leben.
Genau davon handelt dieses so realistische und zugleich tiefgründige Märchen. Erst wenn sich Zorn, Verbitterung, Zerrissenheiten wahrnehmen und begrenzen lassen, kommt vielleicht das dem Buch vorangestellte Motto zur Geltung: "Das Glück hat mich umarmt."

Und die drei Hände, die sich berühren auf der Zeichnung oberhalb dieser Worte?
Sie wirken wie eine tragende Hängematte und sprechen die LeserInnen direkt an.
Es ist die Rede von Schneeflocken, die "sechszackige Muster" in der Luft formen. Und im Titel des Buches wurde eine Gestalt aus der Thora gewählt: Miriam. Am Ende des Märchens trommelt die Tochter mit ihren Händen auf einem Tamburin – so wie die Prophetin Miriam, die Schwester Moses und Aarons, ein Tamburin in die Hand nahm. Da stellt sich ein Zusammenhang her mit den Händen jener Zeichnung. Jetzt schließt sich ein Kreis: Helfende, sanfte, tragende Hände symbolisieren die schützende Kraft, die Mutter und Tochter offenbar nährt.

Wie auch immer es der Märchenerzählerin vorgeschwebt haben mag, dahinter steht sicherlich auch das jahrelange Ringen mit dem Schicksal, mit den großen Herausforderungen im alltäglichen Umgang mit den Folgen einer Behinderung.
Der Verzweiflung, die damit fast zwangsläufig zeitweilig einhergeht, stellt sich eine Aussage des Rabbis entgegen: "Erinnere dich, was das Judentum uns auf den Weg gibt: Wir sollen die Finsternis hell machen!" Es ist bewegend, über diesen Satz, bezogen auf das Ringen rund um das Schicksal Behinderung, nachzudenken und dem Bogen zwischen Verzweiflung und Begegnung im spirituellen wie im persönlichen Bereich zu folgen.

"Federleicht umschlang das Mädchen die Mutter und zupfte zärtlich an ihren Haaren. Den Blick geradeaus gerichtet, schob sie ihre Hand in die linke Mutterhand, wärmte sich, und sagte mit beschwingter Stimme ´Mama´. Die Mutter drückte sie ganz sanft an sich. ´Meine Liebste´, wiederholte sie wieder und wieder. ´Juchhe!´, sagten die verstohlen lächelnden Augen ihrer Tochter. Es würde ein froher Tag werden."

AVIVA-Tipp: "Nejusch - Die Hand der Miriam" ist ein subtiles und sehr realistisches, ein Mut machendes Buch, das berührt und zum Nachdenken anregt.

Nejusch
Die Hand der Miriam
Mit Bildern von Janina

Herausgegeben von Nea Weissberg
ISBN: 3-929905-22-1
Preis: Euro 21,50
Lichtig Verlag Berlin, erschienen 2009
www.lichtig-verlag.de

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Der Rezensent Jürgen Müller-Hohagen ist Psychoanalytiker und veröffentlicht zum Thema Psychotherapie, Behinderungen und zu den seelischen Auswirkungen bei den Nachkommen von NS-TäterInnen und MitläuferInnen.


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Beitrag vom 24.07.2009

AVIVA-Redaktion